Irritation beim Bürger: Ministerpräsident Wüst plädiert für eine Kehrtwende in der Migrationspolitik, während der Kommunale Koordinierungskreis (KoKoK) zugleich für 2024 von weiteren 70.000 Asylsuchenden in NRW ausgeht

Kleine Anfrage
vom 22.11.2023

Kleine Anfrage 2918

der Abgeordneten Enxhi Seli-Zacharias AfD

Irritation beim Bürger: Ministerpräsident Wüst plädiert für eine Kehrtwende in der Migrationspolitik, während der Kommunale Koordinierungskreis (KoKoK) zugleich für 2024 von weiteren 70.000 Asylsuchenden in NRW ausgeht

Wie aus einem Bericht der Süddeutschen Zeitung hervorgeht, fordert der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) jetzt einen neuen Ansatz mit Asylverfahren außerhalb Europas ernsthaft zu diskutieren.1

„Irreguläre Migration muss beendet werden, damit wir denjenigen Menschen gerecht werden können, die wirklich unsere Hilfe brauchen, weil sie vor Krieg und Vertreibung fliehen“, sagte Wüst der Süddeutschen Zeitung. Er fordert daher – analog zum „Ruanda-Modell“ –, dass gegen finanzielle Zusagen Abkommen geschlossen werden, damit Flüchtlinge nach einem Aufgreifen in Europa direkt in Partnerländer entlang der Fluchtrouten gebracht werden, „damit dort Verfahren und Schutzgewährung nach rechtsstaatlichen Regeln stattfinden“.

Hierbei würde es sich – im Falle der Umsetzung – um nicht weniger als einen vollständigen Kurswechsel in der Migrationspolitik handeln.

Gleichzeitig geht aus dem Protokoll der 7. Sitzung des Kommunalen Koordinierungskreises (KoKoK) vom 13. Juni 2023 das komplette Gegenteil hervor.

An der Videokonferenz beteiligt waren Vertreter des MKJFGFI, der Bezirksregierung Arnsberg, des Städtetags, des Städte- und Gemeindebunds sowie des Landkreistags sowie Praktiker aus den Kommunen.

Nach der Eröffnung durch die Gruppenleiterin für soziale und wirtschaftliche Flüchtlingsangelegenheiten im MKJFGFI stellte der Vertreter des MKJFGFI in der NRW-Landesvertretung Brüssel eine Prognose für die Jahre 2023 und 2024 vor. Danach geht man von 60.000 Asylsuchenden für NRW im Jahr 2023 und weiteren 70.000 im Folgejahr aus.

Im Sinne eines Frühwarnsystems würden die Prognosen laufend mit den tatsächlichen Zugängen verglichen und ggf. bei aufkommenden Krisenlagen angepasst. Als Beispiel wurde der Konflikt im Sudan benannt.

Alle Beteiligten einigten sich, die genannten Prognosen zur Grundlage der weiteren Arbeit zu machen.

Die Leiterin des Referats Aufnahme, Unterbringung, Liegenschaften, Zuweisung, Sicherheit, Gesundheit im MKJFGFI stellte darauf aufbauend folgenden 2-Punkte-Plan vor:

  • Auffüllung der zurzeit in Unterquote befindlichen Kommunen, bis das System ausgeglichen ist, also alle Kommunen die Erfüllungsquote von 100 % erreicht haben
  • danach Verteilung des verbleibenden Restbestands der 60.000 Personen gemäß des individuellen FlüAG-Verteilschlüssels auf alle Kommunen

Die Fragen, was die Prognose für die Kommunen und das Land bedeuten, wie viele Plätze vorgehalten werden müssen und wie viele noch geschaffen werden müssen, sollen im weiteren Prozess gemeinsam erörtert werden.

Der leitende Regierungsdirektor im Bereich Landesweite Asyl- und Flüchtlingsangelegenheiten bei der Bezirksregierung Arnsberg führte ergänzend aus, dass das Land bei der Zuweisung an die Kommunen die gesetzlich mögliche Aufenthaltszeit in den Unterbringungseinrichtungen ausschöpft.

Letztere Aussage steht im Widerspruch zu den Aussagen der Praktiker vor Ort anlässlich einer gemeinsamen Anhörung des Kommunal- und Integrationsausschusses des Landtags NRW am 10. November 2023.2 In diesem Zusammenhang erging die eindringliche Bitte, Zuweisungen von Personen ohne Bleibeperspektive zu unterlassen. Auch aus dem letzten Sachstandsbericht staatliches Asylsystem für das 2. Quartal 2023 geht hervor, dass die maximalen Aufenthaltszeiten von bis zu 24 Monaten in der Regel nicht ausgeschöpft werden und der Asyl-Stufenplan folglich nicht umgesetzt wird.

Ich frage daher die Landesregierung:

  1. Wer bestimmt in NRW aktuell den Kurs in der Migrationspolitik – der Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) oder die Ministerin für Flucht und Integration, Josefine Paul (Bündnis 90/Die Grünen)?
  2. Wie passen die Planungen des Kommunalen Koordinierungskreises (KoKoK) vom 13. Juni 2023 zu den aktuellen Aussagen des Ministerpräsidenten?
  3. 000 zusätzliche Aufnahmen im Jahr 2024 wären – bei Fortführung der aktuell geringen Abschiebequote – gleichbedeutend mit umgerechnet 140 größeren Unterkünften à 500 Personen oder 230 kleineren Unterkünften à 300 Personen. Inwiefern geht die Landesregierung davon aus, dass der Bürger noch gewillt ist diesem migrationspolitischen Kurs zu folgen?
  4. Anlässlich der oben erwähnten Anhörung sprachen die erwähnten Praktiker vor Ort die bereits jetzt dramatische Haushaltslage in den Kommunen an. Inwiefern sieht auch die Landesregierung die Gefahr, dass zahlreiche Kommunen – bei Umsetzung der Prognosen des MKJFGFI – in die Haushaltssicherung fallen und somit ihre Handlungsfähigkeit verlieren?
  5. Die Praktiker vor Ort erwähnten in der Anhörung ebenso einen dramatischen Unterschied zur Situation der Jahre 2015 und 2016. Nicht nur ist von der Willkommenskultur nicht mehr viel übrig, auch das Ehrenamt ist in diesem Zusammenhang kaum noch vorhanden. Mit welchem – aktuell nicht verfügbaren – Personal sollen die Kommunen nach Ansicht der Landesregierung im Jahr 2024 weitere 70.000 Aufnahmen schultern?

Enxhi Seli-Zacharias

 

MMD18-6870

 

1 Vgl. https://www.sueddeutsche.de/politik/asylverfahren-wuest-duerr-gipfel-1.6296250 Datum des Originals: 22.11.2023/Ausgegeben: 22.11.2023

2 Vgl. Lt.-Drucksache 18/4364


Die Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration hat die Kleine Anfrage 2918 mit Schreiben vom 8. Januar 2024 namens der Landesregierung im Ein­vernehmen mit der Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Digitalisierung und dem Mi­nister für Bundes- und Europaangelegenheiten, Internationales sowie Medien des Landes Nordrhein-Westfalen und Chef der Staatskanzlei beantwortet.

Vorbemerkung der Landesregierung

Die genannten Zahlen von 60.000 Zugängen Geflüchteter nach Nordrhein-Westfalen im Jahr 2023 und 70.000 im Jahr 2024 sind eine Prognose des Ministeriums für Kinder, Jugend, Fa­milie, Gleichstellung, Flucht und Integration basierend auf dem Verlauf der Zugangszahlen der Asylerstantragstellenden seit 2005 (EASY-Statistik). Da der Bund seiner Verpflichtung, eine Prognose der Zugangszahlen zu erstellen, nicht nachkommt, erstellt das Ministerium für Kin­der, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration hilfsweise eine eigene Prognose, um Planung für das Land als auch für die Kommunen zu ermöglichen. Die Prognose-Zahlen werden regelmäßig im Newsletter des Ministeriums für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration auf der Homepage veröffentlicht (https://www.mkjfgfi.nrw/menue/flucht/entwicklungen-im-bereich-flucht-newsletter). Der Natur der Sache entsprechend handelt es sich lediglich um sehr ungefähre Berechnungen, die laufend angepasst werden. Für die tatsächliche Anzahl von Zugängen Geflüchteter nach Nordrhein-Westfalen hat diese Berechnung des Ministeriums für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration keine Bedeutung.

Sofern die Fragestellerin behauptet, in der Sitzung sei aufbauend auf die Prognose ein 2-Punkte-Plan vorgestellt worden, ist dies falsch. Dargestellt wurde die modellhafte Verteilung für 60.000 Schutzsuchende auf Basis der seinerzeitigen FlüAG-Statistik. Die Modellierung sollte den Teilnehmenden des Kommunalen Koordinierungskreis einen Einblick geben, wie sich die prognostizierten Zugänge auf die Kommunen verteilen würden.

Die Fragestellerin geht im Übrigen fehl in der Annahme eines inhaltlichen Widerspruchs zwi­schen den Erörterungen im Kommunalen Koordinierungskreis am 13. Juni 2023 und den Aus­sagen der Praktikerinnen und Praktiker vor Ort im Landtag am 10. November 2023. Im Verlauf der fünf Monate zwischen beiden Terminen hat sich die Lage im Landessystem verändert: Aufgrund stark gestiegener Zugänge nach Nordrhein-Westfalen war das Land seit August dazu gezwungen, die Zuweisungszahlen Geflüchteter auf die Kommunen anzuheben, wodurch teilweise auch Geflüchtete zugewiesen werden mussten, die gemäß Steuerungser­lass üblicherweise länger in den Landeseinrichtungen geblieben wären. Aktuell (Stand 5.12.23) hat das Land die Zuweisungszahlen wieder deutlich reduziert aufgrund geringerer Zugänge nach Nordrhein-Westfalen.

  1. Wer bestimmt in NRW aktuell den Kurs in der Migrationspolitik der Ministerprä­sident Hendrik Wüst (CDU) oder die Ministerin für Flucht und Integration, Josefine Paul (Bündnis 90/Die Grünen)?

Die Landesregierung berät und beschließt auch über Angelegenheiten der Flüchtlings- und Migrationspolitik nach Maßgabe der Regelungen der Geschäftsordnung der Landesregierung und der Gemeinsamen Geschäftsordnung für die Ministerien des Landes Nordrhein-Westfa­len. Sie orientiert sich dabei einvernehmlich an humanitären Bedarfen und Notwendigkeiten zur Steuerung.

  1. Wie passen die Planungen des Kommunalen Koordinierungskreises (KoKoK) vom 13. Juni 2023 zu den aktuellen Aussagen des Ministerpräsidenten?

Bei den erwähnten Aussagen des Kommunalen Koordinierungskreises handelt es sich – wie in der Vorbemerkung dargestellt – nicht um Planungen, sondern um Prognosen. Diese Prog­nosen machen die Handlungserfordernisse deutlich, auf die der Ministerpräsident hinweist.

  1. 000 zusätzliche Aufnahmen im Jahr 2024 wären bei Fortführung der aktuell geringen Abschiebequote gleichbedeutend mit umgerechnet 140 größeren Un­terkünften à 500 Personen oder 230 kleineren Unterkünften à 300 Personen. Inwie­fern geht die Landesregierung davon aus, dass der Bürger noch gewillt ist diesem migrationspolitischen Kurs zu folgen?

Die Landesregierung verhält sich nicht zu hypothetischen Sachverhalten. Im Übrigen geht die Fragestellerin irriger Weise davon aus, dass die gesamten Zugänge eines Kalenderjahres gleichzeitig in Landeseinrichtungen unterzubringen wären. Erfahrungsgemäß verteilen sich die Zugänge von Geflüchteten nach Nordrhein-Westfalen auf den Jahresverlauf.

  1. Anlässlich der oben erwähnten Anhörung sprachen die erwähnten Praktiker vor Ort die bereits jetzt dramatische Haushaltslage in den Kommunen an. Inwiefern sieht auch die Landesregierung die Gefahr, dass zahlreiche Kommunen bei Um­setzung der Prognosen des MKJFGFI in die Haushaltssicherung fallen und somit ihre Handlungsfähigkeit verlieren?
  2. Die Praktiker vor Ort erwähnten in der Anhörung ebenso einen dramatischen Un­terschied zur Situation der Jahre 2015 und 2016. Nicht nur ist von der Willkommenskultur nicht mehr viel übrig, auch das Ehrenamt ist in diesem Zusammen­hang kaum noch vorhanden. Mit welchem aktuell nicht verfügbaren Personal sollen die Kommunen nach Ansicht der Landesregierung im Jahr 2024 weitere 70.000 Aufnahmen schultern?

Die Fragen 4 und 5 werden aufgrund des Sachzusammenhangs zusammen beantwortet.

Die Prognose des Zugangs von Geflüchteten nach Nordrhein-Westfalen wird entgegen der Annahme der Fragestellerin nicht „umgesetzt“.

Im Übrigen unterstützt die Landesregierung die Kommunen sowohl finanziell als auch organi­satorisch bei der Bewältigung des Fluchtgeschehens. Sie ist sich der schwierigen finanziellen und personellen Situation in den Kommunen bewusst. U.a. hat sie deshalb in der Gemeinsa­men Vereinbarung mit den Kommunen am 29. September 2023 zugesagt, über die regulären und bisherigen Zahlungen hinaus den Kommunen weitere 808 Mio. EUR zur Aufnahme, Un­terbringung und Versorgung der Geflüchteten zur Verfügung zu stellen (darunter 100 Mio. EUR, die entsprechend dem Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz vom 10. Mai 2023 dem Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Digitalisierung zur Digitalisierung der kom­munalen Ausländerbehörden zur Verfügung gestellt werden). Die durch das Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration an die Kommunen zu verteilen­den 708 Mio. Euro sind den Kommunen auf der Grundlage eines Landtagsbeschlusses vom 25. Oktober 2023 am 22. November 2023 bereits überwiesen worden.

 

MMD18-7654