Ist die Inklusion schwerbehinderter Menschen in das Arbeitsleben gesichert?

Kleine Anfrage

Kleine Anfrage 363
des Abgeordneten Dr. Martin Vincentz 24.08.2022

 

Ist die Inklusion schwerbehinderter Menschen in das Arbeitsleben gesichert?

Das im November 2021 veröffentlichte Inklusionsbarometer der „Aktion Mensch“ zeigte auf, dass Menschen mit Behinderungen auch im zweiten Jahr der Pandemie diejenigen waren, die am meisten unter dem angespannten Arbeitsmarkt zu leiden hatten1. Dies spiegelt sich bundesweit vor allem in den Arbeitslosenzahlen für Menschen mit Behinderungen wieder, die in den ersten zehn Monaten des Jahres 2021 im Durchschnitt 174.006 betrug2.

Im regionalen Vergleich der Inklusionslage sticht Nordrhein-Westfalen mit einem Wert von 104,1 als Schlusslicht hervor3. Ohnehin lassen sich beim Inklusionsbarometer für das Jahr 2021 für unser Bundesland mehr Negativtrends als positive Entwicklungen gegenüber dem Vorjahr verzeichnen. So dauert beispielsweise die Suche nach einem Arbeitsplatz für Men­schen mit Behinderungen in Nordrhein-Westfalen mit 397 Tagen im regionalen Vergleich am längsten4. Auch die Anzahl der langzeitarbeitslosen Schwerbehinderten hat sich im Vergleich zum Vorjahr von 47,5 Prozent auf 47,7 Prozent erhöht5, während die Zahl der Anträge auf Kündigungen von 6092 auf 6401 angestiegen ist6.

Die Grundlage zur Beteiligung am Arbeitsleben für Menschen mit Behinderungen ist im Sozial­gesetzbuch IX (SGB IX) festgelegt – darunter auch Pflichten für den Arbeitgeber. Die Rege­lung in § 154 Abs. 1 SGB IX sieht für private und öffentliche Arbeitgeber vor, ab einer Anzahl von mindestens 20 Angestellten auch Menschen mit Behinderungen einzustellen7. Beschäftigen Arbeitgeber nicht die vorgeschriebene Anzahl an schwerbehinderten Mitarbeiter, so müssen sie für jeden nicht vergebenen Arbeitsplatz eine Ausgleichsabgabe an das zuständige Integration-/Inklusionsamt bezahlen8. Des Weiteren ist geregelt, dass 80 Prozent der Ausgleichsabgaben vom Integrations-/Inklusionsamt einbehalten werden, während die restlichen 20 Prozent an einen Ausgleichsfonds beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales gehen9. Diese Vermögensmasse wird unter anderem der Bundesagentur für Arbeit zur Realisierung besonderer Leistungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen zugewiesen10.

Es muss gewährleistet sein, dass Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt teilnehmen können. Die Tatsache, dass Nordrhein-Westfahlen bei der Inklusionslage im regionalen Vergleich so schlecht abschneidet, ist zudem Anlass, genau zu überprüfen, wohin die Gelder aus dem Ausgleichfonds des Bundes fließen und ob diese sachgerecht verwendet werden.

Ich frage daher die Landesregierung:

  1. Wie viele Verstöße gegen die vorgeschriebene Beschäftigungsanzahl an schwerbehin-derten Mitarbeiter wurden vom 01.01.2018 bis zum 31.07.2022 von den Inklusions-ämtern in Nordrhein-Westfalen registriert? (Bitte nach Ämtern in Kreisen und kreisfreien Städten aufschlüsseln)
  2. In welcher Höhe wurden im oben genannten Zeitraum Ausgleichszahlungen durch die Inklusionsämter erhoben? (Bitte nach Summen und Ämtern in Kreisen und kreisfreien Städten aufschlüsseln)
  3. Welche Beträge aus dem Ausgleichsfond flossen im oben genannten Zeitraum für die Realisierung besonderer Leistung zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen nach Nordrhein-Westfalen? (Bitte nach Summen, Ämter und Projekte aufschlüsseln)
  4. Wie gewährleistet die Landesregierung den sachgerechten Einsatz der aus dem Ausgleichsfond entstandenen Vermögensmasse in Nordrhein-Westfalen?
  5. Wie gedenkt die Landesregierung angesichts der vielen Negativtrends die Inklusionslage zu verbessern?

Dr. Martin Vincentz

 

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1 Siehe Aktion Mensch e. V., “Inklusionsbarometer Arbeit“, November 2021, https://delivery-aktion-mensch.stylelabs.cloud/api/public/content/inklusionsbarometer2021?v=ad527273 (Zugriff vom 22.08.2022)

2 Siehe ebd. S. 19

3 Siehe ebd. S. 15

4 Siehe ebd. S. 16

5 Siehe ebd. S. 17

6 Siehe ebd.

7 Vereinfachte Darstellung: Arbeitgeber mit 20 bis 39 Arbeitsplätzen müssen einen schwerbehinderten Menschen beschäftigen. Arbeitgeber mit 40 bis 59 Arbeitsplätzen müssen zwei schwerbehinderte Menschen beschäftigen. Arbeitgeber mit 60 und mehr Arbeitsplätzen müssen auf wenigstens fünf Prozent der Arbeitsplätze schwerbehinderte Menschen beschäftigen.

8 Siehe § 160 Abs. 1 Satz 1 SGB IX

9 Siehe § 160 Abs. 1 Satz 6 SGB IX in Verbindung mit § 36 SchwbAV

10 Siehe BIH Integrationsämter, https://www.bih.de/integrationsaemter/medien-und-publikationen/fachlexikon-a-z/ausgleichsabgabe/ (Zugriff vom 23.08.2022)


Der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales hat die Kleine Anfrage 363 mit Schreiben vom 19. September 2022 namens der Landesregierung beantwortet.

Vorbemerkung der Landesregierung

Die Durchführung des Anzeigeverfahrens nach § 163 Abs. 2 und 4 und auch die Überwachung der Erfüllung der Beschäftigungspflicht obliegt gem. § 196 Abs. 1 Nr. 6 bzw. Nr. 7 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) der Bundesagentur für Arbeit (BA). Insofern liegen der Lan­desregierung keine Informationen vor. Die Erhebung und Verwendung der Ausgleichsabgabe dagegen ist Aufgabe der Integrationsämter, die in Nordrhein-Westfalen den Namen Inklusi-onsämter tragen. Sie sind bei den Landschaftsverbänden angesiedelt, und führen die Aufga­ben als Selbstverwaltungsangelegenheiten durch.

Die Verwaltung des Ausgleichsfonds ist Aufgabe des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS), § 161 S. 2 SGB IX; auch insofern liegen der Landesregierung nur einge­schränkt Zahlen vor.

  1. Wie viele Verstöße gegen die vorgeschriebene Beschäftigungsanzahl an schwerbehinderten Mitarbeiter wurden vom 01.01.2018 bis zum 31.07.2022 von den Inklusionsämtern in Nordrhein-Westfalen registriert? (Bitte nach Ämtern in Kreisen und kreisfreien Städten aufschlüsseln)

Für Verstöße und deren Feststellung ist die BA zuständig, s.o. Vorbemerkung S. 1.

  1. In welcher Höhe wurden im oben genannten Zeitraum Ausgleichszahlungen durch die Inklusionsämter erhoben? (Bitte nach Summen und Ämtern in Krei­sen und kreisfreien Städten aufschlüsseln)

Eine Aufschlüsselung nach Städten und Kreisen nehmen die Inklusionsämter bei der Erhebung der Ausgleichsabgabe nicht vor. Die Jahreseinnahmen sind in den jeweiligen Jahresberichten der Inklusionsämter der Landschaftsverbände Rheinland bzw. Westfa­len-Lippe nachlesbar. Sie stehen im Internet zum Download bereit.
z.B. LWL Jahresbericht 2020 (lwl-inklusionsamt-arbeit.de)

3. Welche Beträge aus dem Ausgleichsfond flossen im oben genannten Zeitraum für die Realisierung besonderer Leistung zur Teilhabe schwerbehinderter Men­schen nach Nordrhein-Westfalen? (Bitte nach Summen, Ämter und Projekte aufschlüsseln)

Die Verwaltung des Ausgleichsfonds obliegt dem BMAS.

Die Landschaftsverbände führen ab diesem Jahr 18 Prozent (früher 20 Prozent) des Aufkommens an Ausgleichsabgabe an den Ausgleichsfonds beim BMAS ab (§°160 Abs. 6 i.V.m § 162 SGB IX und § 36 Schwerbehindertenausgleichsabgabeverordnung (SchwbAV)). 2 Prozent der Ausgleichsabgabe verbleiben im Ausgleichsfonds, während die restlichen 16 Prozent des Aufkommens der Ausgleichsabgabe an die BA weiterge­leitet werden. (§ 162 S. 1 Nr. 2 und 3 SGB IX i.V. mit den §§ 35 ff. der SchwbAV). Wie die Mittel innerhalb der BA aufgeteilt werden, ist der Landesregierung nicht bekannt.

Aus dem Ausgleichsfonds werden einzelne Projekte und Programme gefördert. Da die einzelnen Projekte nur förderfähig sind, wenn sie „überregional“ sind, ist eine Zuordnung bestimmter Gelder aus Projekten nach Nordrhein-Westfalen nicht möglich.

Allerdings kann eine Aussage zu einem Programm getroffen werden:

Das BMAS hat im April 2016 das Programm „Inklusionsinitiative II – AlleImBetrieb“(AIB) aus Mitteln des Ausgleichsfonds‘ aufgelegt, um die Schaffung zusätzlicher Arbeits- und Ausbildungsplätze in neuen und bestehenden Integrationsprojekten (jetzt: Inklusionsbetrieben) gem. § 132 SGB IX zu unterstützen.

Für Nordrhein-Westfalen wurden insgesamt rd. 34 Mio. € zur Verfügung gestellt; davon LVR: >18,5 Mio. € für das Rheinland und LWL: >15,6 Mio. € für Westfalen-Lippe.

Mit Stichtag 31.12.2019 sind die für Nordrhein-Westfalen zur Verfügung stehenden AIB-Mittel ausgeschöpft. Es wurden bislang Mittel in Höhe von 34.346.106,62 € (inkl. Zinsen) für geplante bzw. bereits umgesetzte 733 Arbeits- und Ausbildungsplätze bewilligt. Die Auszahlung der gebundenen Mittel erfolgt kontinuierlich nach Mittelabruf.

4. Wie gewährleistet die Landesregierung den sachgerechten Einsatz der aus dem Ausgleichsfond entstandenen Vermögensmasse in Nordrhein-Westfa­len?

Da die Verwaltung des Ausgleichsfonds dem BMAS obliegt, erfolgt auch von dort die Überprüfung der zweckentsprechenden Verwendung der Gelder.

5. Wie gedenkt die Landesregierung angesichts der vielen Negativtrends die Inklusionslage zu verbessern?

Mit der Fortführung der bereits seit Jahren erfolgreichen Landesförderprogramme Aktion „100 zusätzliche Ausbildungsplätze für Jugendliche und junge Erwachsene mit Behinde­rung in NRW“ und Landesprogramm „Integration unternehmen!“ sowie der investiven För­derung für Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) bestehen bereits solide Pfeiler, um den Weg für einen inklusiven Arbeitsmarkt zu festigen und weiter auszubauen. Hierzu werden wir uns auch weiterhin dafür einsetzen, dass die bestehenden Rechtsunsicherheiten hinsichtlich der umsatzsteuerlichen Privilegierung der Inklusionsbetriebe und auch von WfbM beseitigt werden und der Status der Gemeinnützigkeit bei Inklusionsbetrieben bei der Beantragung von Wirtschaftshilfen kein Hindernis mehr darstellt, um deren wirtschaftliche Absicherung zu verbessern.

Der Aktionsplan „NRW inklusiv“ bündelt insgesamt 177 laufende oder geplante Maßnah­men aller Landesministerien zur Förderung der Teilhabe von Menschen mit Behinderun­gen. Sie betreffen alle Politikfelder und sind nach sogenannten „Lebenslagen“ gegliedert, beispielsweise „Familie und soziales Netz“, „Bildung und Ausbildung“, „Arbeit und materi­elle Lebenssituation“ und „Gesundheit und Gesundheitsversorgung“. Die Initiativen im Ak­tionsplan zielen unter anderem darauf ab, die Selbsthilfeverbände zu stärken, mehr Be­schäftigung von Menschen mit Behinderungen auf dem ersten Arbeitsmarkt zu schaffen und die Barrierefreiheit im Gesundheitswesen auszubauen. Der Aktionsplan wird weiter­entwickelt.

 

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