Kinderschutz im Gesundheitswesen

Kleine Anfrage

Kleine Anfrage 110
des Abgeordneten Dr. Martin Vincentz vom 07.07.2022

 

Kinderschutz im Gesundheitswesen

Kinder und Jugendliche, die Opfer von Missbrauch oder Misshandlung werden, sollten schnelle und kompetente Hilfe in ganz Deutschland durch Kinderschutzambulanzen und Kompetenzzentren erhalten, wie es bereits durch das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW seit 2019 gefördert wird. Die Aufgabe eines Kompetenzzentrums besteht darin, Ärzte beim Kinderschutz kompetent, sachgerecht und im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten zu unterstützen, rechtsmedizinische Beurteilungen von Verdachtsfällen zu erstellen, sowie in der Unterstützung bei der Beweissicherung und Qualitätssicherung von Akteuren im Gesundheitswesen. Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Schutz durch den Staat und die Gesellschaft, wenn sie Opfer von Straftaten wurden. Seit dem 1. Januar 2012 gelten die Regelungen des Bundeskinderschutzgesetzes, welches den Schutz von Kindern vor Gefährdungen für ihr Wohl verbessern soll. In allen Ländern sind Vorsorgeuntersuchungen an Kindern bis zu 6 Jahren vorgeschrieben.

Seit 2012 wird die Statistik der Kinder- und Jugendhilfe zu den Gefährdungseinschätzungen nach § 8a Absatz 1 des Achten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VIII) jährlich erhoben. Die Zahl der Verfahren, in denen die öffentlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe in Nordrhein-Westfalen eine akute oder latente Kindeswohlgefährdung sahen, steigt von Jahr zu Jahr erheblich an; zuletzt wurden in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2020 54.347 Verfahren registriert.1

Auch im zweiten Corona-Jahr hat die häusliche Gewalt in Deutschland zugenommen. 2021 haben die Behörden 161.000 Opfer von Gewalt durch Partner oder Ex-Partner registriert, berichtet die „Welt am Sonntag“ unter Berufung auf Innenministerien und Landeskriminalämter. Dies entspreche einem Anstieg von 1,3 Prozent im Vergleich zu 2020.2 Nordrhein-Westfalen gehört mit einem Anstieg von 4,7 Prozent und insgesamt 34.235 registrierten Opfern zu den acht Bundesländern, in denen die Zahlen der häuslichen Gewalt zunahmen.

Ich frage daher die Landesregierung:

  1. Welche Daten liegen der Landesregierung für die Jahre 2020, 2021 und das erste Halbjahr 2022 über die Inanspruchnahme ambulant-ärztlicher Leistungen im Kindes-und Jugendalter vor, die mit einem Anfangsverdacht der Kindesmisshandlung, des Kindesmissbrauchs oder der Verwahrlosung stehen?
  2. Welche Präventionsmaßnahmen wurden seit dem 1. Januar 2020 von der Landesregierung zum Kinder- und Jugendschutz eingeleitet?
  3. Wie unterstützt die Landesregierung in den Bereichen Medizin, Kinder- und Jugendhilfe, Justiz, Kitas, Schulen, Fachberatungsstellen und Polizei die für den Kinder- und Jugendschutz Verantwortlichen während und nach der Corona-Pandemie?

Dr. Martin Vincentz

 

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1 https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Soziales/Kinderschutz/Tabellen/gefaehrdung-kindeswohl.html

2 https://www.tagesschau.de/inland/corona-haeusliche-gewalt-101.html


Der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales hat die Kleine Anfrage 110 mit Schreiben vom 2. August 2022 im Einvernehmen mit dem Minister des Inneren, der Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration, der Ministerin für Schule und Bildung und dem Minister der Justiz namens der Landesregierung beantwortet.

  1. Welche Daten liegen der Landesregierung für die Jahre 2020, 2021 und das erste Halbjahr 2022 über die Inanspruchnahme ambulant-ärztlicher Leistungen im Kindes- und Jugendalter vor, die mit einem Anfangsverdacht der Kindesmisshandlung, des Kindesmissbrauchs oder der Verwahrlosung stehen?

Die Daten, die der Landesregierung zu dieser Frage vorliegen, wurden durch die Kassenärztlichen Vereinigungen Nordrhein und Westfalen-Lippe ausgewertet und enthalten die Daten der vertragsärztlichen ambulanten Versorgung. Die Auswertung bezieht sich auf Patientinnen und Patienten im Alter von 0 bis 17 Jahren.

Da keine EBM-Ziffern zu dieser Fragestellung vorliegen, wurden die entsprechenden ICD-Codes ausgewertet:

  • 74.0 – Vernachlässigen oder Imstichlassen
  • 74.1 – Körperlicher Missbrauch
  • 74.2 – Sexueller Missbrauch
  • 74.3 – Psychischer Missbrauch
  • 74.8 – Sonstige Formen des Missbrauchs von Personen
  • 74.9 – Missbrauch von Personen, nicht näher bezeichnet

Bei der Diagnosesicherheit wurden die Diagnosen „Verdacht auf“ berücksichtigt. Die untenstehenden Zahlen beziehen sich auf die Quartale 1/2020 bis 01/2022. Das zweite Quartal für das Jahr 2022 ist aktuell noch nicht auswertbar. Eine Summierung der Quartalszahlen zu einer Jahres- oder Gesamtanzahl würde die Zahlen möglicherweise nicht zuverlässig darstellen, da dieselben Patientinnen und Patienten dann mehrfach gezählt werden könnten. Zudem wird darauf hingewiesen, dass ggf. nicht nur eine einzelne Diagnose kodiert wird. In einem Behandlungsfall können theoretisch mehrere Diagnosen kodiert werden. Dies bedeutet, dass es sich bei den unten aufgeführten Zahlen nicht zwangsläufige um absolute Fallzahlen handelt.

Tabelle: Zahlen der KV Nordrhein und der KV Westfalen-Lippe

ICD-Code (Verdacht auf) 2020/1 2020/2 2020/3 2020/4
WL No WL No WL No WL No
Gesamt 182 249 191 300 236 382 237 394
T74.0 26 41 25 42 33 57 48 67
T74.1 62 99 71 123 84 121 81 127
T74.2 59 105 73 89 89 144 78 133
T74.3 1 2 4 3 4
T74.8 1 14 2 8 4 14 2 24
T74.9 34 35 20 37 24 42 25 39

 

ICD-Code (Verdacht auf) 2021/1 2021/2 2021/3 2021/4 2022/1
WL No WL No WL No WL No WL No
Gesamt 324 410 292 385 260 365 237 338 262 331
T74.0 69 78 46 70 33 53 38 36 46 64
T74.1 103 128 120 125 94 131 100 117 86 106
T74.2 106 144 99 132 94 121 72 118 78 117
T74.3 3 5 1 5 4 4 2 2 1 4
T74.8 7 19 6 24 8 23 8 30 15 12
T74.9 36 36 20 29 27 33 17 35 36 28

 

  1. Welche Präventionsmaßnahmen wurden seit dem 1. Januar 2020 von der Landesregierung zum Kinder- und Jugendschutz eingeleitet?

Im September 2019 hat die Landesregierung die Interministerielle Arbeitsgruppe (IMAG) „Maßnahmen zur Prävention, zum Schutz vor und Hilfe bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche“ eingerichtet und sie beauftragt, für Nordrhein-Westfalen ein abgestimmtes Handlungs- und Maßnahmenkonzept zur Prävention, zum Schutz vor und Hilfe bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zu entwickeln.

Das Handlungs- und Maßnahmenkonzept wurde dem Landtag im Dezember 2020 vorgelegt. Es beinhaltet insgesamt 59 Maßnahmen der unterschiedlichen Ressorts der Landesregierung, die für eine Stärkung der Prävention von und Intervention bei sexualisierter Gewalt von grundlegender, strukturbildender Bedeutung sind, beziehungsweise zum damaligen Zeitpunkt waren.

Als langfristiges Bekenntnis zu ihrem Einsatz für den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt hatte die Landesregierung mit Verabschiedung des Maßnahmenkonzeptes im Jahr 2020 zudem beschlossen, die Interministerielle Arbeitsgruppe fortzusetzen und die fortlaufende Umsetzung und Weiterentwicklung der ergriffenen Maßnahmen mit einem Berichtswesen zu begleiten. Das Berichtswesen sollte neben neuen Entwicklungen und Initiativen der Landesregierung auch den fortlaufenden Arbeits- und Diskussionsprozess im nordrhein-westfälischen Landtag aufnehmen.

Mit dem im März 2022 vorgelegten ersten Bericht zur Umsetzung und Fortschreibung des Handlungs- und Maßnahmenkonzepts gibt die Landesregierung einen ersten Überblick über den Umsetzungsstand zu diesen Maßnahmen, beziehungsweise zu solchen Vorhaben, die im Berichtszeitraum neu begonnen wurden.

Beide Berichte wurden dem Landtag vorgelegt und sind auf der Seite des Ministeriums für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration abrufbar (https://www.mkjfgfi.nrw/praevention-sexualisierter-gewalt-0).

Der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt ist und bleibt ein wichtiges und zentrales Anliegen der Landesregierung. Um die Umsetzung und Weiterentwicklung der ergriffenen Maßnahmen auch weiterhin zu begleiten, ist die erneute Einsetzung einer Interministeriellen Arbeitsgruppe geplant. Sie soll auch zukünftig jährlich zum Umsetzungsstand der Maßnahmen berichten.

Um das umfassende Jugendhilfeangebot in der Öffentlichkeit sichtbarer zu machen, hat der beim Ministerium der Justiz angesiedelte Landespräventionsrat in Kooperation mit dem Deutschen Städtetag die Kampagne „Du bist nicht allein“ (https://www.dubistnichtallein.nrw/) im Mai 2021 initiiert. Die Kampagne ist ein zentraler Wegweiser für Kinder und Jugendliche in Nordrhein-Westfalen, die psychische oder körperliche Gewalt in ihrem Alltag erfahren (haben). Sie werden ermutigt, sich selbst zu helfen und sich vertrauensvoll an ihr zuständiges Jugendamt zu wenden, um dort Beratung, Hilfe und gegebenenfalls Schutzmaßnahmen in Anspruch zu nehmen.

  1. Wie unterstützt die Landesregierung in den Bereichen Medizin, Kinder- und Jugendhilfe, Justiz, Kitas, Schulen, Fachberatungsstellen und Polizei die für den Kinder- und Jugendschutz Verantwortlichen während und nach der Corona-Pandemie?

Auch während der Corona-Pandemie ist das Beratungsangebot des Kompetenzzentrums Kinderschutz im Gesundheitswesen (KKG NRW) weitergelaufen. Der Ausfall von Präsenz-Veranstaltungen im Bereich der Fortbildung konnte bereits in einem frühen Stadium der Pandemie durch die Etablierung von Online-Angeboten aufgefangen werden. Die Anschaffung der notwendigen Hardware und Software ermöglicht auch in Zukunft die Bereitstellung eines breiteren Angebotes im Rahmen von Online-Veranstaltungen und führt somit stellenweise zu einer Erweiterung der Fortbildungsangebote.

Die Landesregierung fördert zudem auch im Jahr 2022 Kinderschutzambulanzen in NRW.

Im Rahmen der „Fördermaßnahmen zur Unterstützung von Prävention und Nachsorge sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche“ hat das Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration die landesgeförderten Fachberatungsstellen in den Jahren 2020 und 2021 dabei unterstützt, Telefon- und Onlineberatung, beziehungsweise webbasierte Plattformen oder Präsenzen auszubauen.

In diesem Zusammenhang war unter anderem die Erst-, Ergänzungs- und Ersatzbeschaffung elektronischen Equipments für digitale Beratungstools wie etwa Hard- und Software, die Programmierung von Online-Angeboten oder ähnlichem förderfähig.

Den landeszentralen Organisationen der Kinder- und Jugendarbeit und den Trägern von Kindertagesbetreuung und offenen Ganztagsangeboten an Grundschulen stehen im Rahmen der Fördermaßnahmen seit 2020 zudem Mittel zur Verfügung, die unter anderem für die Entwicklung neuer digitaler Medien oder Formate für die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und ihren Familien oder aber für die Übersetzung von bestehenden analogen Angeboten (z.B. Fortbildungs- oder Informationsmaterialien) in digitale Formate verwendet werden können.

Aus den Mitteln können zudem Supervisionen für Fachkräfte der Beratungsstellen gefördert werden.

Um auch während der Corona-Pandemie möglichst viele Fachkräfte mit Informations-und Fortbildungsangebote zu erreichen, haben die Landesfachstelle Prävention sexualisierte Gewalt aber auch die vom Land geförderten Fachberatungsstellen bei den Landesjugendämtern vorrangig digitale Formate durchgeführt.

Das Thema Kinderschutz ist fester Bestandteil der Fortbildungsprogramme der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen. Im Rahmen des Gesundheitsmanagements werden derzeit zudem geeignete Dienstleister gesucht, um Bediensteten der Justiz, die mit belasteten Strafverfahren (u. a. Kinderpornographie, sexueller Kindesmissbrauch) befasst sind bzw. waren, Unterstützungs- und Beratungsangebote wie Supervisionen unterbreiten zu können. Seit dem 1. Januar 2021 steht den Bediensteten der Justiz schließlich eine Trauma-Hotline zur Verfügung. Hier unterstützen Fachleute unmittelbar bei der Bewältigung schockierender dienstlicher Ereignisse.

In Bezug auf den gemeinsamen Runderlass „Zusammenarbeit bei der Verhütung und Bekämpfung der Jugendkriminalität“ arbeiten in den Polizeibezirken eine Vielzahl von Akteuren aus dem Bereich der Kinder-und Jugendhilfe, der Medizin, der Schule, der Kindergärten, der Kirchen, der Vereine und andere Organisationen zusammen.

Das Ziel hierbei ist es, Multiplikatorinnen und Multiplikatoren über Straftaten zum Nachteil von Kindern zu informieren, einer Opferwerdung vorzubeugen und Kinder und Jugendliche so besser zu schützen. Somit trifft die Polizei Nordrhein-Westfalen Maßnahmen zur Verhinderung von Straftaten zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen nicht erst bei aktuellen Gefährdungslagen, sondern entfaltet ihre kriminalpräventive Wirkung kontinuierlich durch die Informationsweitergabe an die originär für den Kinder- und Jugendschutz zuständigen Akteure.

So informiert die Polizei Nordrhein-Westfalen u. a. über Erscheinungsformen von sexuellem Missbrauch und Misshandlungen von Kindern, Täterstrategien sowie Opferberatungs- und Hilfsangebote wie z. B. das Hilfetelefon „Sexueller Missbrauch“ des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Diese Angebote werden kontinuierlich angepasst und erweitert.

Die Corona-Pandemie hat dazu geführt, dass wichtige Präventionsveranstaltungen sowie Projekte der polizeilichen Kriminalprävention der Netzwerkpartner nicht wie geplant durchgeführt werden konnten. Veranstaltungen wie z. B. Informationsveranstaltungen zum Erkennen von sexuellem Missbrauch oder Misshandlungen bei Kindern konnten nicht im Rahmen von Präsenzveranstaltungen stattfinden. Hier wurden vereinzelt Veranstaltungen digital angeboten. Auch aus diesen Gründen ist das digitale Angebot des Programms Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes (ProPK) auf www.polizei-beratung.de erweitert worden.

 

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