Mitarbeiter eines Ausländeramtes packt aus: NRW-Regierung hat Abschiebung fast unmöglich gemacht. „Chancen-Aufenthaltsrecht“ wurde zum „Anti-Abschiebe-Gesetz“!

Kleine Anfrage
vom 11.10.2024

Kleine Anfrage 4609

der Abgeordneten Enxhi Seli-Zacharias AfD

Mitarbeiter eines Ausländeramtes packt aus: NRW-Regierung hat Abschiebung fast unmöglich gemacht. „Chancen-Aufenthaltsrecht“ wurde zum „Anti-Abschiebe-Gesetz“!

Ein Mitarbeiter einer NRW-Ausländerbehörde äußerte sich kürzlich gegenüber der BILD zum Abschiebeversagen in NRW und in Deutschland allgemein. Besonders in der Kritik stand dabei das umstrittene Chancen-Aufenthaltsrecht1 und somit indirekt auch die Ministerin für Flucht und Integration, Josefine Paul (Bündnis 90/Die Grünen), welche die Einführung des Chancen-Aufenthaltsrechts seinerzeit offensichtlich kaum abwarten konnte und auf ihre Ungeduld – als eine ihrer ersten migrationspolitischen Amtshandlungen – mit einem Vorgriffserlass reagierte.2 Der Beamte der Ausländerbehörde nannte dieses Gesetz den „Bleibe-Paragrafen“. Diese Aussage begründet sich darin, dass ausreisepflichtige Ausländer automatisch 18 Monate in Deutschland bleiben können und Abschiebungen in diesem Zeitraum fast unmöglich sind.

Der Beamte wies auf besondere Details des Gesetzes hin, durch die die Arbeit der Ausländerbehörden geradezu verunmöglicht werde. So heißt es im „Chancen-Aufenthaltsrecht“ unter Punkt 1.1.b: „Die Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen ist kein Versagungsgrund für eine Aufenthaltserlaubnis.“ Bedeutet: Auch denjenigen, gegen die bereits ein Abschiebeverfahren läuft, gibt das Gesetz noch einmal eine Bleibe-Perspektive.3

Kritisiert wird auch der Umstand, dass Verurteilungen zu einer Straftat mit einem Strafmaß von maximal 90 Tagessätzen nicht zu einem Ausschluss vom Chancen-Aufenthaltsrecht führen. Ebenso sei eine Abschiebung quasi ausgeschlossen, wenn sich die Familie in Deutschland befindet.

Der Beamte führt weiter aus: „Dann können wir einen jugendlichen Intensivstraftäter zum Beispiel nicht abschieben, weil die Eltern hierbleiben dürfen. Genauso andersherum: Wenn die Eltern kriminell sind, die Kinder aber nicht, bleiben alle hier.“ Kriminelle Großfamilien würden also einfach zusammenbleiben können – in Deutschland.4

Erforderliche Sprachkenntnisse auf dem Niveau A2 ließen sich durch einen erfolgreich bestandenen Onlinetest „Leben in Deutschland“ nachweisen, der offenbar so einfach ist, dass 96,4 Prozent der Teilnehmer ihn problemlos bestehen. Im schlimmsten Fall könne man den Test beliebig oft wiederholen, bis es klappt.

Kurios wird es beim erforderlichen „Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung“, welches man bloß schriftlich einreichen müsse. „Und die dafür notwendige Loyalitätserklärung liegt in 19 Sprachen vor, der Bewerber muss also nur noch unterschreiben.“

Im Gesetzestext wird zudem gefordert „regelmäßig zugunsten des potenziell Begünstigten“ zu entscheiden. Der Beamte der Ausländerbehörde sagte dazu gegenüber der BILD: „Wir haben damit gar kein Ermessen mehr, wir MÜSSEN zugunsten des Asylbewerbers entscheiden, selbst wenn dessen Asylantrag bereits abgelehnt wurde.“5

Bestätigt wurde durch die Ausführungen des Beamten der Hinweis unsererseits, dass mit dem Chancen-Aufenthaltsrecht die Statistik über die Anzahl der ausreisepflichtigen Personen massiv geschönt wird. „So wird aus illegaler Migration plötzlich legale Migration“, schimpft der Beamte (völlig zu Recht).

Wie aus der Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 4292 hervorgeht, waren zum Stichtag 31.07.2024 im Ausländerzentralregister für Nordrhein-Westfalen insgesamt 19.431 Personen mit einem Aufenthaltstitel gemäß § 104c AufenthG erfasst. Demgegenüber waren mit Stand Mai 2024 lediglich 2.240 abgelehnte Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG von den Ausländerbehörden gemeldet worden. Ebenfalls mit Stand Mai 2024 wurden insgesamt 172 Übergänge aus dem Chancen-Aufenthaltsrecht in einen Aufenthaltstitel nach § 25a AufenthG und 788 Übergänge in einen Aufenthaltstitel nach § 25b AufenthG erfasst. Anders ausgedrückt haben mit Stand Mai 2024 erst 5 % der Personen, denen ein Aufenthaltstitel gemäß § 104c AufenthG zugesprochen wurden, den angestrebten Übergang geschafft, obwohl die Anforderungen – wie oben geschildert – offensichtlich geradezu lächerlich gering sind.

Auch wenn man – im günstigsten Fall – davon ausgeht, dass die insgesamt 960 Übergänge allesamt aus den erteilten 6.395 Aufenthaltserlaubnissen gemäß § 104c AufenthG im Zeitraum bis zum 30.06.2023 resultieren – bei denen die 18-monatige Frist folglich nach und nach bis spätestens 31.12.2024 ausläuft –, betrüge die bisherige Erfolgsquote lediglich 15 %. Das Scheitern des Projekts „Chancen-Aufenthaltsrecht“ ist somit bereits jetzt absehbar. Als Ergebnis bleibt am Ende nur, dass vorgesehene Abschiebungen in vielen Fällen unnötig um 18 Monate verzögert wurden, so sie überhaupt noch stattfinden sollen, was ebenso als nicht gesichert zu bewerten ist.

Ich frage daher die Landesregierung:

  1. Die Erfüllung des Sprachniveaus A2 bedeutet, dass die Person Sätze und häufig gebrauchte Wörter verstehen, sich in einfachen, alltäglichen Situationen verständigen und ihre Herkunft, Ausbildung und Umgebung beschreiben kann. Inwiefern ist nach Ansicht der Landesregierung ein bestandener Onlinetest „Leben in Deutschland“, der offenbar so einfach ist, dass 96,4 Prozent der Teilnehmer ihn problemlos bestehen und bei dem offenbar zudem nicht gesichert ist, dass er von der betroffenen Person selbst absolviert wurde, geeignet, das erforderliche (geringe) Sprachniveau A2 nachzuweisen?
  2. Wie lässt sich nach Ansicht der Landesregierung das „Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ gesichert nachweisen, wenn die erforderliche Loyalitätserklärung in 19 Sprachen schriftlich vorliegt, was auf oftmals mangelnde Sprachkenntnisse der Bewerber hindeutet, und die Erklärung quasi nur noch unterschrieben werden muss?
  3. Wie viele Aufenthaltstitel gemäß § 104c AufenthG wurden bisher in NRW erteilt, obwohl die Person in der Vergangenheit wegen einer Straftat zu einer Strafe von maximal 90 Tagessätzen verurteilt worden ist?
  4. Wie bewertet die Landesregierung den von dem Beamten kritisierten Umstand, dass selbst Straftäter nicht abgeschoben werden können, wenn ein anderes Familienmitglied über einen Aufenthaltstitel gemäß § 104c AufenthG verfügt?
  5. Mit welchen konkreten Maßnahmen wird sich die zuständige Ministerin für Integration und Flucht, Josefine Paul (Bündnis 90/Die Grünen), verstärkt für eine zeitnahe Abschiebung bereits zuvor ausreisepflichtiger Personen einsetzen, die nach der 18­monatigen Frist den Übergang zu einem Aufenthaltstitel nach § 25a bzw. 25b AufenthG nicht geschafft haben und folglich in den Status der Duldung zurückfallen?

Enxhi Seli-Zacharias

 

MMD18-10967

 

1 Vgl. https://www.bild.de/bild-plus/regional/ruhrgebiet/ruhrgebiet-aktuell/auslaenderamt-mitarbeiter-packt-aus-abschieben-ist-so-gut-wie-unmoeglich-89711586.bild.html#tg829xgggcm

2 Vgl. https://www.frnrw.de/themen-a-z/aufenthalt/nrw-mkjfgfi-versendet-vorgriffserlass-auf-das-chancen-aufenthaltsrecht.html

3 Ebd.

4 Ebd.

5 Ebd.


Die Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration hat die Kleine Anfrage 4609 mit Schreiben vom 8. November 2024 namens der Landesregierung be­antwortet.

  1. Die Erfüllung des Sprachniveaus A2 bedeutet, dass die Person Sätze und häufig gebrauchte Wörter verstehen, sich in einfachen, alltäglichen Situationen verstän­digen und ihre Herkunft, Ausbildung und Umgebung beschreiben kann. Inwiefern ist nach Ansicht der Landesregierung ein bestandener Onlinetest „Leben in Deutschland“, der offenbar so einfach ist, dass 96,4 Prozent der Teilnehmer ihn problemlos bestehen und bei dem offenbar zudem nicht gesichert ist, dass er von der betroffenen Person selbst absolviert wurde, geeignet, das erforderliche (ge­ringe) Sprachniveau A2 nachzuweisen?

Das Chancen-Aufenthaltsrecht ist befristet für drei Jahre durch den Bundesgesetzgeber in das Aufenthaltsgesetz aufgenommen worden. Es verfolgt einen neuen Ansatz. Ausländische Per­sonen, die sich zu einem Stichtag seit mindestens fünf Jahren im Bundesgebiet aufhalten, können das Chancen-Aufenthaltsrecht erhalten, um innerhalb von 18 Monaten die Vorausset­zungen für ein weiteres Bleiberecht zu schaffen. Der Bundesgesetzgeber hat das Chancen-Aufenthaltsrecht an Voraussetzungen geknüpft. Die Erfüllung des Sprachniveaus A2 zählt aber nicht zu den Erteilungsvoraussetzungen. Auch steht der Test „Leben in Deutschland“ (LiD) bzw. dessen Bestehen in keinem direkten Zusammenhang mit dem Chancen-Aufenthaltsrecht. Auch hier handelt es sich um keine Erteilungsvoraussetzung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 104c AufenthG.

Im Übrigen handelt es sich bei dem Test LiD nicht um eine Onlineprüfung, sondern um eine schriftliche Prüfung in Präsenz. Prüfungsstellen zur Abnahme des LiD Tests sind gemäß § 20a Abs. 1 Satz 1 der Integrationskursverordnung (IntV) vom Bundesamt für Migration und Flücht­linge (BAMF) zugelassene Prüfstellen. Wie auch in anderen Verwaltungsbereichen besteht die Möglichkeit, sich in diesem Fall online auf die Prüfung vorzubereiten.

  1. Wie lässt sich nach Ansicht der Landesregierung das „Bekenntnis zur freiheitli­chen demokratischen Grundordnung“ gesichert nachweisen, wenn die erforderli­che Loyalitätserklärung in 19 Sprachen schriftlich vorliegt, was auf oftmals man­gelnde Sprachkenntnisse der Bewerber hindeutet, und die Erklärung quasi nur noch unterschrieben werden muss?

Zum Vorliegen erforderlicher Sprachkenntnisse wird auf die Antwort zu Frage 1 verwiesen. Die Abgabe des Bekenntnisses zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung (vgl. § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) erfolgt im Übrigen bei der jeweils zuständigen Ausländerbehörde im Rahmen der dortigen aufenthaltsrechtlichen Verfahren. In Zweifelsfällen kann die Ausländer­behörde ein wirksames Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Rah­men einer persönlichen Befragung – erforderlichenfalls unter Zuhilfenahme eines Sprachmitt­lers – überprüfen.

  1. Wie viele Aufenthaltstitel gemäß § 104c AufenthG wurden bisher in NRW erteilt, obwohl die Person in der Vergangenheit wegen einer Straftat zu einer Strafe von maximal 90 Tagessätzen verurteilt worden ist?

Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG ist gesetzlich ausgeschlossen, wenn der Antragsteller wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat ver­urteilt wurde. Außer Betracht bleiben dabei grundsätzlich Verurteilungen zu Geldstrafen von insgesamt bis zu 50 Tagessätzen. Über diese Grenze hinaus bleiben darüber hinaus nur Straf­taten, die nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Asylgesetz nur von Ausländern begangen werden können, bis zu einer Geldstrafe von bis zu 90 Tagessätzen sowie Verurteilungen nach dem Jugendstrafrecht, die nicht auf Jugendstrafe lauten, außer Betracht (vgl. § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG). Straftaten oberhalb der vorgenannten Grenzen führen zu der Versa­gung eines Chancen-Aufenthaltsrechts. Insofern führen bereits Verurteilungen zu Geldstrafen von mehr als 50 Tagessätzen wegen Straftaten, die nicht nach dem Aufenthalts- oder Asylge­setz zu bewerten waren, zur Erfüllung des vorgenannten Ausschlussgrundes.

Die angefragten Daten werden überdies in der maßgeblichen Statistik des Ausländerzentral-registers nicht erfasst.

  1. Wie bewertet die Landesregierung den von dem Beamten kritisierten Umstand, dass selbst Straftäter nicht abgeschoben werden können, wenn ein anderes Fami­lienmitglied über einen Aufenthaltstitel gemäß § 104c AufenthG verfügt?

Die Frage der Rückführung ausländischer Personen in ihr Heimatland erfordert stets eine Prü­fung im Einzelfall. Im Zuge dessen sind unter anderem auch Verurteilungen aufgrund von Straftaten sowie der Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG in den Blick zu nehmen. Pauschale Aussagen, dass eine Abschiebung von Personen, deren Familienangehörige im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG sind, ausgeschlossen ist, können vor diesem Hintergrund nicht getroffen werden.

  1. Mit welchen konkreten Maßnahmen wird sich die zuständige Ministerin für Integra­tion und Flucht, Josefine Paul (Bündnis 90/Die Grünen), verstärkt für eine zeitnahe Abschiebung bereits zuvor ausreisepflichtiger Personen einsetzen, die nach der 18-monatigen Frist den Übergang zu einem Aufenthaltstitel nach § 25a bzw. 25b AufenthG nicht geschafft haben und folglich in den Status der Duldung zurückfal­len?

Die Landesregierung hat ein umfassendes Maßnahmenpaket zu Sicherheit, Migration und Prävention in Nordrhein-Westfalen vorgelegt, das konkrete landesseitige Schritte einleitet so­wie Vorschläge in Richtung des Bundes unterbreitet. Gleichwohl wird der weitere Ausbau der fünf Zentralen Ausländerbehörden verfolgt. Hierzu werden die Zentralen Ausländerbehörden mit weiteren Mitteln für Personal und Sachmittel ausgestattet, insbesondere in den Bereichen Rückkehrmanagement sowie der Stärkung der Beratung im Bereich freiwillige Rückkehr. Un­geachtet dessen prüfen die für die Vollziehung der Ausreisepflicht in Nordrhein-Westfalen zu­ständigen Ausländerbehörden die Rückführungsmöglichkeiten von vollziehbar ausreisepflich­tigen Personen fortlaufend. Sofern sich aufgrund des Wegfalls eines Rückführungshindernis­ses die Möglichkeit zur Rückführung einer vollziehbar ausreisepflichtigen Person ergibt, er­greift die jeweilige Ausländerbehörde die dann erforderlichen Schritte, um die Rückführung weiter zu betreiben, sofern in Anbetracht der weiteren Entwicklung des Einzelfalles, zum Bei­spiel aufgrund einer zwischenzeitlich aufgenommenen Beschäftigung oder einer nachweisbar anstehenden qualifizierten Berufsausbildung, keine anderen aufenthaltsrechtlichen Optionen bestehen, die zu einer anderen Bewertung des Einzelfalls führen.

 

MMD18-11377