Nach dem Urteil des Bundesarbeitsgerichtes – Arbeitsbedingungen in der häuslichen Pflege.

Kleine Anfrage
vom 05.08.2021

Kleine Anfrage 5893des Abgeordneten Dr. Martin Vincentz vom 05.08.2021

 

Nach dem Urteil des Bundesarbeitsgerichtes Arbeitsbedingungen in der häuslichen Pflege.

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat am 24.Juni 2021 ein weitreichendes Urteil zur häuslichen Pflege durch ausländische Betreuungskräfte gefällt.1 In dem Urteil heißt es unter anderem, dass auch von einem Dienstleistungsunternehmen aus dem Ausland entsandte Betreuungskräfte als Arbeitnehmer Anspruch auf den deutschen gesetzlichen Mindestlohn haben.

Zu den geleisteten Arbeitsstunden gehört dabei auch ein Bereitschaftsdienst, der darin bestehen kann, dass die Betreuungskraft im Haushalt der zu betreuenden Person lebt und grundsätzlich verpflichtet ist, im Bedarfsfalle zu allen Tages- und Nachtzeiten zur Verfügung zu stehen.

Geklagt hatte eine Bulgarin, die eine 96-jährige Seniorin betreute. Der Arbeitsvertrag sah täglich sechs Arbeitsstunden und 30 pro Woche vor. Tatsächlich habe sie jedoch 24 Stunden täglich gearbeitet an sieben Tagen in der Woche, machte die Klägerin vor Gericht geltend; denn zu ihren Pflichten gehörte es, den gesamten Alltag der betagten Dame zu managen: waschen, kochen, einkaufen, Arzttermine, Spaziergänge bis hin zu der Aufgabe, der Dame schlicht Gesellschaft zu leisten.2

Das Landesarbeitsgericht (LAG) Berlin Brandenburg hatte ihr in seinem Urteil3 eine Nachzahlung von mehr als 38.000 Euro für sieben Monate im Jahre 2015 zugesprochen – zusätzlich zu den knapp 6.700 Euro netto, die sie erhalten hatte. Das LAG war von 21 Arbeitsstunden pro Tag ausgegangen.

Das BAG hob dieses Urteil nun auf und verwies es zur Neuverhandlung zurück ans LAG. Das Gericht stufte die Annahme eines 21-Stunden-Tages als überzogen ein. Es fehle an ausreichenden Anhaltspunkten, dass die Frau nur drei Stunden täglich Freizeit gehabt habe.

Doch auch das BAG geht davon aus, dass die Frau sehr viel mehr als nur 30 Stunden pro Woche gearbeitet hat. Auch den Bereitschaftsdienst zählt es ausdrücklich zur Arbeitszeit.4

In diesem Zusammenhang frage ich die Landesregierung:

  1. Wie viele Beschäftigte von einem Dienstleistungsunternehmen aus dem Ausland waren in Nordrhein Westfalen in den vergangenen fünf Kalenderjahren (2015 bis 2020) in der häuslichen Pflege tätig?
  2. In wie vielen dieser Fälle ist der zu dem Zeitpunkt aktuelle Mindestlohn gezahlt worden?
  3. Aus welchen europäischen Staaten, respektive Drittstaaten kommen die Betreuungskräfte?
  4. Welche durchschnittliche Wochenarbeitszeit wird den Betreuungskräften als vergütungspflichtige Arbeitszeit zu Grunde gelegt?

Dr. Martin Vincentz

 

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1 5 AZR 505/20

2 https://deutsch.medscape.com/artikelansicht/4910121?src=WNL_mdplsfeat_210630_mscpedit_de&ua c=292989AY&impID=3477522&faf=1

3 http://www.berlin.de/gerichte/arbeitsgericht/presse/pressemitteilungen/2020/pressemitteilung.977319. php

4 https://juris.bundesarbeitsgericht.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bag&Art=pm&Datum =2021&nr=25345&pos=2&anz=18&tite l=Gesetzlicher_Mindestlohn_f%FCr_entsandte_ausl%E4ndische_Betreuungskr%E4fte_in_Privathaus halten


Der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales hat die Kleine Anfrage 5893 mit Schreiben vom 1. September 2021 namens der Landesregierung beantwortet.

Vorbemerkung der Landesregierung

In Nordrhein-Westfalen werden rd. 800.000 Pflegebedürftige in den Pflegegraden 1 bis 5 ent­weder allein durch Angehörige oder zusammen mit ambulanten Pflegediensten in der eigenen Häuslichkeit versorgt.

Valide Zahlen zu den in der Häuslichkeit der Pflegebedürftigen lebenden Betreuungskräfte, der sogenannten „Live-in-Kräfte“, liegen der Landesregierung nicht vor. Das Bundesministe­rium für Gesundheit geht davon aus, dass bundesweit etwa 100.000 Haushalte die Versorgung der Pflegebedürftigen durch Live-in-Kräfte sicherstellen (Stand: 2018). Die Anzahl dieser Per­sonen kann dabei höher liegen, da Haushalte teilweise auch mehrere Kräfte parallel oder in kurzer zeitlicher Abfolge beschäftigen können.

Bei der Klärung der angesprochenen Problematik im Zusammenhang mit der jüngsten Recht­sprechung des Bundesarbeitsgerichts ist der Bundesgesetzgeber gefragt, insbesondere zur Anpassung des Arbeitszeitgesetzes. Hier besteht ferner ein Spannungsfeld im Bereich des Mindestlohngesetzes, des Arbeitszeitgesetzes und der sozialversicherungsrechtlichen Vor­schriften. Die Anpassungen der Vorschriften müssen mit Augenmaß erfolgen, da hier verschie­dene Interessen zur Legalisierung und Entgeltung einerseits und der Schutz vor Ausbeutung andererseits angesprochen sind.

  1. Wie viele Beschäftigte von einem Dienstleistungsunternehmen aus dem Ausland waren in Nordrhein-Westfalen in den vergangenen fünf Kalenderjahren (2015 bis 2020) in der häuslichen Pflege tätig?
  2. In wie vielen dieser Fälle ist der zu dem Zeitpunkt aktuelle Mindestlohn gezahlt worden?

Wegen des Sachzusammenhangs werden die Antworten zu Fragen 1 und 2 gemeinsam be­antwortet.

Der Landesregierung liegen hierzu keine validen Erkenntnisse vor. Entsprechende Daten fin­den sich auch nicht in amtlichen Statistiken, z.B. der Bundesagentur für Arbeit.

  1. Aus welchen europäischen Staaten, respektive Drittstaaten kommen die Betreuungskräfte?
  2. Welche durchschnittliche Wochenarbeitszeit wird den Betreuungskräften als vergütungspflichtige Arbeitszeit zu Grunde gelegt?

Zu den vielfältigen Modellen in der Praxis und der daraus ableitbaren vergütungspflichtigen Arbeitszeit liegen ebenfalls keine Erkenntnisse vor.

In dem vom BAG entschiedenen Fall war es z.B. so, dass in dem geschlossenen Arbeitsver­trag eine Arbeitszeit von 30 Stunden wöchentlich vereinbart wurde, Samstag und Sonntag seien arbeitsfrei. Ein Bereitschaftsdienst sei nicht vereinbart gewesen. Das Landesarbeitsge­richt ging in seinem Urteil jedoch von einer geschätzten Arbeitszeit (Arbeitszeit + Bereitschafts­zeit) von 21 Stunden kalendertäglich aus. Das BAG hat im Wege der Zurückverweisung ent­schieden, dass das Landesarbeitsgericht nun konkret zu ermitteln hat, in welchem Umfang die Klägerin Vollarbeit oder Bereitschaftsdienst leisten musste und wie viele Stunden Freizeit sie hatte.

Nach den rechtlichen Vorgaben beträgt die werktägliche Arbeitszeit nach dem Arbeitszeitge­setz 8 Stunden und kann auf 10 Stunden verlängert werden. Die wöchentliche Arbeitszeit be­trägt bei einer 6 Tage-Woche 48 Stunden bzw. 60 Stunden, wenn von der Verlängerung auf 10 Stunden Gebrauch gemacht würde. Von dieser Höchstarbeitszeit kann allerdings per Ta­rifvertrag abgewichen werden, wenn in diese regelmäßig und in erheblichem Umfang Arbeits­bereitschaft oder Bereitschaftsdienst fällt. In Tarifverträgen können für Bereitschaftsdienste prozentual niedrigere Vergütungssätze vereinbart sein, entsprechend der Inanspruchnahme während des Bereitschaftsdienstes. Dies obliegt allerdings den Sozialpartnern und nicht dem Gesetzgeber.

 

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