Nach der Katastrophe ist vor der Katastrophe – Seelische Traumata und posttraumati-sche Belastungsstörungen der Flutopfer müssen schnellstmöglich behandelt werden!

Antrag
vom 31.08.2021

Antragder AfD-Fraktion vom 31.08.2021

 

Nach der Katastrophe ist vor der Katastrophe Seelische Traumata und posttraumati­sche Belastungsstörungen der Flutopfer müssen schnellstmöglich behandelt werden!

I. Ausgangslage

„Wir haben gesprochen, wo Menschen Worte gesucht haben. Wir haben geschwiegen, wo das Leid uns überwältigt hat und das Leben, das mit den Müllbergen weggeworfen wurde, wieder neu gefunden werden will.“ – Diese Worte stammen von einer Notfallseelsorgerin, die von ihren Erfahrungen mit den Flutopfern am 28. August 2021 bei der Gedenkfeier im Dom zu Aachen für die Opfer der Flutkatastrophe im Sommer diesen Jahres eine Ansprache hielt1.

Die Flutkatastrophe begann am Vormittag des 16. Juli 2021 mit Starkregen und führte zu schweren Überflutungen in Nordrhein-Westfalen. Besonders betroffen sind der Kreis Euskir­chen, die Städteregion Aachen, der Rhein-Erft-Kreis, der Rhein-Sieg-Kreis, der Märkische Kreis und die kreisfreien Städte Hagen und Wuppertal.

In Rheinland-Pfalz wurde das Ahrtal überflutet. Kleine Flüsse und Bäche wurden zu reißenden Strömen und entfalteten eine Zerstörungskraft ungeahnten Ausmaßes: Brücken und Häuser wurden weggerissen und verschwanden in den Wassermassen, Straßen wurden unterspült, Tiefgaragen und Keller geflutet2.

Aktuell geht man davon aus, dass die Flut mehr als 170 Menschenleben gefordert hat und dass ein Gesamtschaden von bis zu 100 Milliarden Euro entstanden ist. Mehr als 100.000 Menschen waren zeitweise ohne Wasser und Strom, und viele sind es noch. Mancherorts war auch das Mobilfunknetz ausgefallen, so dass die Menschen mehrere Tage lang von der Au­ßenwelt abgeschnitten waren.

Für die Menschen, die „nur“ Sachschäden zu beklagen haben, geht es um materielle Verluste, die bewältigt werden müssen. Für viele Betroffene stellt das eine außerordentliche Herausfor­derung dar, weil sie keine Elementarversicherung abgeschlossen hatten oder abschließen konnten, um die durch Starkregen verursachten Schäden abzudecken. Sie stehen nun vor dem Nichts. So müssen sie mit dem Verlust ihrer Häuser, Wohnungen, des Hausrats, ihrer Wertgegenstände und Dokumente umgehen3. Hinzu kommt, wie bei vielen anderen Flutopfern, der Verlust persönlicher Dinge und Erinnerungsstücke wie etwa Schmuck (von häufig überwiegend ideellem Wert) oder von Fotoalben.

Mehrere Kitas und Schulen sind derart vom Flutwasser beschädigt worden, dass aufwendige Renovierungsarbeiten anstehen. Andere Gebäude müssen genutzt werden, um den Schülern Unterricht zu erteilen und die Kinder betreuen zu können4.

Ministerpräsident Armin Laschet äußerte, dass die Unterstützung der Flutopfer keine Ober­grenze haben soll; die Landesregierung stellte am 22. Juli 2021 Soforthilfen zur Verfügung. Sein Beschluss, einen „erfahrenen Praktiker, der den Menschen vor Ort hilft“ zum Sonderbe­auftragten für die Fluthilfe zu berufen, kann lediglich ein erster Schritt sein, für die Flutopfer eine Stelle zu schaffen, die sich als Ansprechpartner vor Ort der Nöte der Flutopfer annimmt. Hilfsmaßnahmen sollen koordiniert werden und so für strukturelle Verbesserungen bei der Be­seitigung von Schäden sorgen. Eine große Gefahr geht von Lithium-Akkus aus, welche in den Fluten verschwunden sind oder auf den Notdeponien zwischengelagert werden.

Bei außergewöhnlichen Ereignissen mit katastrophalen Folgen spielt es eine große Rolle, den Traumatisierungen der Opfer zu begegnen5. Nach psychisch belastenden Ereignissen wie Flutkatastrophen können Maßnahmen wie die sog. Psychologische Erste Hilfe nur ein erster wichtiger Schritt zur Stabilisierung der Psyche sein. Hier handelt es sich um einen modularen und flexiblen Ansatz, um Betroffenen unmittelbar nach einem traumatischen Ereignis helfen zu können. Dazu zählt, die momentanen Bedürfnisse und Sorgen zu eruieren und darauf ein­zugehen, kurzfristig für Sicherheit und Wohlergehen zu sorgen, praktische Hilfe anzubieten – und vor allen Dingen, den Betroffenen zuzuhören.

Mit Zuwendung und Anteilnahme können Belastungen deutlich reduziert werden. Nach dem erlittenen Trauma ist verlässliche emotionale und praktische Unterstützung wichtig6. Es ist von den individuellen Verhältnissen abhängig, ob sich nach der Akuttraumatisierung das Be­schwerdebild einer posttraumatischen Belastungsstörung zeigt, die im Rahmen einer Psycho­therapie behandelt werden muss7. In Rheinland-Pfalz haben viele Flutopfer bereits die Mög­lichkeit genutzt, über die kostenlose Hotline8 oder vor Ort9 psychologische Hilfe zu bekommen.

Finanzielle Zuschüsse sind nur ein Teil der Hilfen. Psychische Belastungen dürfen nicht außer Acht gelassen werden. Viele Betroffene mussten Todesängste ausstehen, als sie nachts um­geben von tosenden Flutwellen auf Dächern saßen und auf Rettung warteten, welche oft erst am Folgetag zustande kam. Viele Menschen sprechen davon, sie hätten am 14. Juli 2021 eine „Apokalypse“ erlebt; die persönlich erlebte Zerstörung sei für sie unbegreiflich. Die gravieren­den Auswirkungen auf die Psyche der Flutopfer wird z.B. anhand ihrer Berichte deutlich, wo­nach bereits das Geräusch von Regentropfen Panikattacken und Angstzustände bei ihnen auslöst.

Neben der finanziellen Unterstützung ist also auch ein zeitnahes psychotherapeutisches An­gebot erforderlich, um den Menschen bei der Bewältigung der erlittenen Traumata individuell helfen zu können.

Auch Helfer können nicht immer mit allem umgehen, was sie bei Bergungsarbeiten in den Flutgebieten erleben. Dies trifft gleichermaßen auf Bundeswehrsoldaten, Einsatzkräfte von Feuerwehr und THW sowie privaten Hilfsorganisationen und auch auf freiwillige Helfer zu. Sie sind nun bereits mehr als vier Wochen häufig über ihre körperliche und seelische Belastbarkeit gegangen oder waren psychischen Belastungen ausgesetzt, mit denen sie nicht umzugehen gelernt haben10. Manche mussten nicht nur unter schwersten Bedingungen arbeiten, sondern auch ohne seelsorgerische Betreuung Leichen bergen11, was in der Psyche Spuren hinterlas­sen hat. Auch sie benötigen zeitnah ein Angebot von Psychologen und Psychotherapeuten, um diese psychisch belastenden Erlebnisse verarbeiten zu können.

Kinder und Jugendliche kämpfen besonders mit den Folgen der Flutkatastrophe. Statt ent­spannter Sommerferien haben sie aus psychiatrischer Sicht ein Trauma erlebt, dessen Grad bei den Kindern je nach deren Erlebnissen und ihrem Entwicklungsstand unterschiedlich aus­fällt. Sie haben oftmals ihr Zuhause, geliebte Menschen oder Haustiere verloren. Auch trivial anmutende Gegenstände haben für Kinder oft eine essentielle Bedeutung12. Kinder waren über alle Maßen überfordert von dem, was sie in der Flutkatastrophe erleben mussten – man­che haben Wasserleichen vorbeischwimmen sehen13, All das sind traumatische Erlebnisse, mit denen sie nicht umgehen können und bei deren Bewältigung in der Regel auch ihre Eltern nicht die notwendige Hilfestellung werden leisten können. Manche Kinder schlafen seitdem schlecht, nässen wieder ein und wollen nicht mehr alleine bleiben. Sie brauchen Auszeiten, damit sie andere Bilder sehen und nicht ständig zuhause mit dem Erlebten konfrontiert wer-den14.

Vermehrt sind bei den Kindern auch Ängste und Depressionen zu beobachten15. Sie benötigen nach der Akuttraumatisierung dringend Normalität und Sicherheit, damit sie zur Ruhe kom­men. Von höchster Wichtigkeit ist für sie, dass sie mit Hilfe erfahrener Kinder- und Jugendpsy­chotherapeuten ihre Erlebnisse zu verarbeiten lernen, Sie müssen auf ein Leben nach der Flutkatastrophe vorbereitet werden. Dieses Leben wird für viele mit Veränderungen im sozia­len Umfeld verbunden sein. Es gilt, auf diese einschneidenden sozialen Veränderungen den Fokus zu legen und auf die traumatischen Erlebnisse der Kinder individuell einzugehen, damit ihnen der Wechsel in einen neuen Lebensabschnitt erleichtert wird.

Für viele Flutopfer – über alle Altersgrenzen hinweg – ist das Leben nun ein vollkommen an­deres, vor allem dann, wenn sie nicht nur materielle Schäden zu tragen, sondern auch den Verlust nahestehender Familienangehöriger zu betrauern haben. Die sich daraus ergebenden langfristigen psychischen Belastungen für die Betroffenen sind überhaupt noch nicht abseh­bar. Diese Menschen brauchen einen Ansprechpartner vor Ort, der sie auch auf ihre psychi­schen Belange anspricht und sich darum kümmert, dass sie professionelle Hilfe von Psycho­logen und Therapeuten in Anspruch nehmen können.

Der Bericht des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales vom 26. August 2021 – Vor­lage 17/5560 – zeigt auf, dass die dringend benötigte weiterführende Hilfe gerade nicht im erforderlichen Umfang angestoßen wird. Die Landesregierung erkennt den Bedarf an Behand­lungsplätzen für die Menschen aus den betroffenen Gebieten an und fördert u.a. die Errichtung eines niedrigschwelligen gruppentherapeutischen Angebots vor Ort in Zusammenarbeit mit der KVNO ab dem 9. August 2021 bis zum 31. Oktober 2021 mit 95.000 Euro. Die weitere Versorgung soll laut Bericht im Anschluss an die gruppentherapeutische Versorgung bei Be­darf über die Regelversorgung bzw. bereits vorhandene Strukturen und Angebote abgebildet werden. Angesichts der enormen Wartezeiten bei psychotherapeutischen Behandlungen ist zu erwarten, dass die Hilfe suchenden Menschen zunächst sich selbst überlassen bleiben. Gruppentherapeutische Angebote in den besonders betroffenen Kommunen ersetzen nicht eine auf den individuellen Bedarf zugeschnittene Hilfe. Die im Bericht erwähnten Anlaufstellen werden erst dann zur echten Hilfe, wenn die Rahmenbedingungen für eine schnelle erste psy­chologische Hilfe geschaffen werden.

Daher ist es unabdingbar, ein Programm zur Traumabewältigung für Hilfesuchende zu erar­beiten, damit die schrecklichen Erlebnisse, Verluste und Bilder verarbeitet werden können, um so psychischen Folgeschäden vorzubeugen.

II. Der Landtag stellt fest:

  1. Alle Flutopfer, die von der Flutkatastrophe in NRW vom 16. Juli 2021 betroffen sind, brau­chen nicht nur materielle Hilfen, sondern auch psychologische Unterstützung, um die er­littenen Traumata verarbeiten zu können. Hierfür müssen Programme zur Traumabewäl-tigung erstellt werden.
  2. In das Aufgabenprofil des bereits vorgesehenen Sonderbeauftragten ist aufzunehmen, dass auch die Bewältigung psychischer Traumata der Betroffenen höchste Priorität hat und zu gewährleisten ist.
  3. Diese Hilfe steht auch Mitarbeitern der Bundeswehr, des THW, der Feuerwehr, der priva­ten Hilfsorganisationen und allen ehrenamtlichen Helfern zu, die bei den Aufräumarbeiten und der Betreuung der Flutopfer vor Ort tätig sind.
  4. Kinder und Jugendliche stehen hier besonders im Fokus, da sie angesichts traumatischer Erlebnisse vor psychischen Langzeitfolgen besonders zu schützen sind.
  5. Wiederaufbau und Renovierungen von Kitas und Schulen in NRW haben höchste Priorität, damit Kinder und Jugendliche wieder in ihrem sozialen Umfeld betreut und unterrichtet werden und sie Abstand von den Erlebnissen der Flutkatastrophe nehmen können.

III. Der Landtag fordert die Landesregierung dazu auf, dass

  1. das Angebot an Anlaufstellen vor Ort deutlich ausgeweitet wird, damit Betroffene sofort psychologische Hilfe erhalten können;
  2. sich sich dafür einsetzt, dass ein Nottelefon eingerichtet und aufrechterhalten wird, um allen Betroffenen schnellstmöglich Hilfe anzubieten, wobei für Kinder und Jugendliche ein Traumatelefon eingerichtet wird, welches ihnen 24 Stunden täglich ohne Wartezeit zeit­nahe Hilfe ermöglicht;
  3. zeitnah ein Programm zur Traumabewältigung erarbeitet wird, das auf die individuellen persönlichen Verhältnisse abgestimmt wird und den Betroffenen angeboten werden kann;
  4. ein Netzwerk eingerichtet wird, das allen Betroffenen ein unterschwelliges Angebot unter­breitet, um kurzfristig Termine bei Psychologen und Therapeuten zu bekommen;
  5. sie alle finanziellen Mittel zur Verfügung stellt, damit Kitas und Schulen schnellstmöglich wieder aufgebaut und renoviert werden können, um Kinder und Jugendliche dort zu be­treuen und zu unterrichten.

Dr. Martin Vincentz
Nic Vogel
Andreas Keith
Markus Wagner

und Fraktion

 

Antrag als PDF

 

1 Vgl. dazu https://www1.wdr.de/nachrichten/rheinland/gedenkgottesdienst-aachen-flutopfer-102.html, zuletzt abgerufen am 29. August 2021.

2 Vgl. dazu die Vorher- Nachherbilder in: https://www.dw.com/de/vorher-nachher-bilder-der-flutkata-strophe/a-58296828, zuletzt abgerufen am 26.08.2021.

3 Vgl. dazu https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/flutbetroffene-nora-aus-blessem-wir-freuen-uns-dass-wir-leben, zuletzt abgerufen am 26.08.2021.

4 Vgl. dazu den Bericht der Landesregierung an den Ausschuss für Heimat, Kommunales, Bauen und Wohnen des Landtags Nordrhein-Westfalen für die Sitzung am 27. August 2021, http://landtag/por-tal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMV17-5553.pdf.

5 Vgl. dazu https://www.aerzteblatt.de/archiv/142801/Psychologische-Erste-Hilfe-Traumatisierungen-wird-vorgebeugt, zuletzt abgerufen am 26.08.2021.

6 Vgl. dazu https://www.gesundheitsinformation.de/welche-unterstuetzung-ist-unmittelbar-nach-einem-trauma-sinnvoll.html, zuletzt abgerufen am 26.08.2021.

7 Vgl. dazu https://www.psychosoziale-gesundheit.net/pdf/faust_naturkatastophen.pdf,  zuletzt abgeru­fen am 26.08.2021.

8 Vgl. dazu https://www.swr.de/swraktuell/rheinland-pfalz/koblenz/notfallseelsorge-fuer-flutopfer-100.html, zuletzt abgerufen am 26.08. 2021.

9 https://caritas-bonn.de/ueber_uns/spenden/spendenprojekte/Ueberschwemmungskatastrophe-im-Ahrtal/, zuletzt abgerufen am 26.08.2021.

10 So https://www.t-online.de/region/koeln/news/id_90464414/bundeswehr-helfer-bei-flutkatastrophe-in-nrw-wir-funktionieren-nur-noch-.html, zuletzt abgerufen am 26.08.2021.

11 https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/hochwasser-flut-landwirt-erfahrung-zdfheutelive-100.html, zuletzt abgerufen am 26.08.2021.

12 Vgl. dazu https://www.epochtimes.de/politik/deutschland/unfassbare-katastrophe-im-ahrtal-hoch-traumatisierte-kinder-in-flut-regionen-brauchen-sicherheit-a3569134.html, zuletzt abgerufen am  26.08.2021.

13 https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/kinder-flutopfer-101.html, zuletzt abgerufen am  26.08.2021.

14 https://www.swr.de/swraktuell/rheinland-pfalz/koblenz/traumatisierte-kinder-hochwasser-100.html, zuletzt abgerufen am 26.08.2021.

15 Vgl. dazu https://www.deutschlandfunkkultur.de/psychische-belastungen-wie-kinder-unter-den-fol-gen-der-flut.1008.de.html?dram :article_id=501119, zuletzt abgerufen am 26.08.2021.