„Phantom-Schüler“ – Was unternimmt die Landesregierung gegen eine neue Masche von Sozialbetrug durch EU-Bürger?

Kleine Anfrage

Kleine Anfrage 240
der Abgeordneten Enxhi Seli-Zacharias und Carlo Clemens vom 01.08.2022

 

„Phantom-Schüler“ – Was unternimmt die Landesregierung gegen eine neue Masche von Sozialbetrug durch EU-Bürger?

Der Europäische Gerichtshof urteilte im Jahr 2020, dass sich aus dem Schulbesuchsrecht von Kindern von EU-Arbeitnehmer zwingend ein Recht auf Aufenthalt der Eltern ableitet, das unabhängig von einem gesicherten Lebensunterhalt besteht. Danach haben Eltern Anspruch auf Sozialleistungen in Deutschland, auch wenn sie nicht arbeiten, solange ihre Kinder dort zur Schule gehen.1

Auf dieser Basis scheint sich, wie in der Kreiszeitung (Syke) berichtet wird, eine neue Masche von Sozialbetrug durch EU-Ausländer entwickelt zu haben. Um Sozialleistungen des Staates abzugreifen, werden Kinder an einer Schule angemeldet – ohne dass dabei jedoch die Absicht bestünde, diese auch zur Schule zu schicken.2 Die Dunkelziffer lässt sich dabei aus Gründen des Datenschutzes schwer beziffern.

Grundsätzlich kann EU-Bürgern, die sich im Rahmen der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit in Deutschland aufhalten und nicht mehr selbst für den eigenen Lebensunterhalt aufkommen können, die Freizügigkeit auch entzogen werden. Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs leitet sich allerdings auch für Eltern ein Aufenthaltsrecht ab, das auf dem Schulbesuch der eigenen Kinder fußt, samt Anspruch auf Sozialleistungen während dieser Zeit. Dabei besteht die Möglichkeit, dass sich die zum Schulbesuch in Deutschland angemeldeten Kinder dem Schulbesuch entziehen oder sich in Wahrheit nicht einmal in Deutschland aufhalten.

Wir fragen daher die Landesregierung:

  1. Wie viele Verdachtsfälle auf Anmeldung sich nicht in Nordrhein-Westfalen aufhaltender oder gar nicht existierender Schulkinder gab es im aktuellen Schuljahr? (Bitte nach Anzahl und Herkunftsland differenziert auflisten)
  2. Bei wie vielen dieser Verdachtsfälle dienten derartige Anmeldungen der Erlangung von Aufenthaltstiteln bzw. von Sozialleistungen?
  3. Wie viele Verdachtsfälle auf Mehrfachanmeldungen (an verschiedenen Schulen) gab es im laufenden Schuljahr?
  4. Wie begegnen Land und Kommunen dieser Möglichkeit des Sozialhilfemissbrauchs?
  5. In welcher Form findet in diesem Zusammenhang ein Datenabgleich zwischen dem Land NRW, den Schulbehörden, den kommunalen Ausländerbehörden, den Sozialämtern, den Jobcentern und den Schulen statt?

Enxhi Seli-Zacharias
Carlo Clemens

 

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1 Vgl. Rechtssache C181/19

2 Vgl. https://www.kreiszeitung.de/lokales/diepholz/von-eu-auslaendern-phantom-schueler-neuer-sozialbetrug-91645458.html


Die Ministerin für Schuld und Bildung hat die Kleine Anfrage 240 mit Schreiben vom 30. August 2022 im Einvernehmen mit dem Minister des Innern, der Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration, der Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Digitalisierung und dem Minister der Justiz namens der Landesregierung beantwortet.

  1. Wie viele Verdachtsfälle auf Anmeldung sich nicht in Nordrhein-Westfalen aufhaltender oder gar nicht existierender Schulkinder gab es im aktuellen Schuljahr? (Bitte nach Anzahl und Herkunftsland differenziert auflisten)
  2. Bei wie vielen dieser Verdachtsfälle dienten derartige Anmeldungen der Erlangung von Aufenthaltstiteln bzw. von Sozialleistungen?
  3. Wie viele Verdachtsfälle auf Mehrfachanmeldungen (an verschiedenen Schulen) gab es im laufenden Schuljahr?

Die Fragen 1 bis 3 werden wegen des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet.

Die gewünschten Daten liegen dem Ministerium für Schule und Bildung nicht vor und können durch das Ministerium auch nicht erhoben werden. Schulen verwalten und organisieren ihre Angelegenheiten selbstständig. Die Organisation, Durchführung und Koordination von Anmeldeverfahren erfolgt demnach vor Ort durch die Schule in Abstimmung mit dem Schulträger.

Eine zentrale Datenerhebung ist auch rechtlich bedenklich: Die Entgegennahme und Bearbeitung von Anmeldungen durch Schulen dient allein der Entscheidung über die Aufnahme der Schülerin oder des Schülers in die Schule gemäß § 46 Schulgesetz NRW.

Schulen sind zur Verarbeitung personenbezogener Schülerdaten nur im Umfang der Vorgaben des § 120 Schulgesetz NRW und der Verordnung über die zur Verarbeitung zugelassenen Daten von Schülerinnen, Schülern und Eltern (VO-DV I) befugt. Im Rahmen der Schulanmeldung und während des Schulverhältnisses dürfen sie somit nur die für diesen Zweck erforderlichen Daten aus den enumerativ in der VO-DV I aufgeführten Daten erheben. Dazu gehören Angaben im Hinblick auf den Bezug von Sozialleistungen oder auf aufenthaltsrechtliche Bedingungen nicht.

Soweit mit der Frage 3 angedeutet wird, aus „Mehrfachanmeldungen“ an Schulen ergäben sich Verdachtsmomente im Sinne der Fragestellung, wird darauf hingewiesen, dass das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Doppel- und Mehrfachanmeldungen nach gegenwärtig geltender Rechtslage als zulässig bewertet hat (Beschluss vom 3. August 2021 – 19 B 1159/21 –, juris).

  1. Wie begegnen Land und Kommunen dieser Möglichkeit des Sozialhilfemissbrauchs?

Mit Erlass vom 10.05.2022 (4054 E – III. 25/19) hat das Ministerium der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen mit Wirkung zum 13.05.2022 die Staatsanwaltschaft Bochum mit der Wahrnehmung der Amtsverrichtungen in allen in Nordrhein-Westfalen anhängigen und anhängig werdenden Verfahren der Organisierten Kriminalität wegen Missbrauchs von Sozialleistungen (Kindergeld, Arbeitslosengeld II und vergleichbare Leistungen) sowie wegen Delikten, die den entsprechenden prozessualen Taten zugehören, beauftragt. Die Leitende Oberstaatsanwältin in Bochum hat dem Ministerium der Justiz unter dem 15.08.2022 berichtet, dass seither der Anfrage entsprechende Verfahren dort nicht anhängig geworden seien.

Einen Ansatz, Sozialleistungsmissbrauch zu begegnen, hat die aus einer Kooperation zwischen dem Ministerium der Finanzen, der Justiz und des Innern entstandene Task Force „Ressortübergreifende Bekämpfung von Finanzierungsquellen Organisierter Kriminalität und Terrorismus“ mit dem Modell „MISSIMO“ entwickelt. Diese Task Force ist im Landeskriminalamt des Landes Nordrhein-Westfalen angesiedelt.

Nordrhein-Westfalen erprobt zudem in den drei Kommunen Gelsenkirchen, Düren und Horn-Bad Meinberg den Prototyp von fälschungssicheren Schulbescheinigungen. Ziel ist es, Rechtssicherheit bei dem Bezug von Kindergeldleistungen zu gewährleisten, denn die Familienkassen in Nordrhein-Westfalen haben in den vergangenen Jahren Fälle von unberechtigtem Kindergeldbezug anhand gefälschter Schulbescheinigungen aufgedeckt. Auf Grundlage der Ergebnisse wird zu entscheiden sein, ob ein Schulbescheinigungs-Tool allen interessierten Kommunen und ihren Schulen in Nordrhein-Westfalen zur Verfügung gestellt werden kann.

  1. In welcher Form findet in diesem Zusammenhang ein Datenabgleich zwischen dem Land NRW, den Schulbehörden, den kommunalen Ausländerbehörden, den Sozialämtern, den Jobcentern und den Schulen statt?

Für Ermittlungsverfahren erhebliche Informationen werden über Auskunftsersuchen nicht im Wege eines Datenabgleichs erhoben.

Kern des Modells „MISSIMO“ ist ein strukturierter Datenaustausch auf kommunaler Ebene zwischen den beteiligten Ämtern einer Kommune, der Familienkasse, der örtlich zuständigen Kreispolizeibehörde, der örtlich zuständigen Staatsanwaltschaft sowie dem regional zuständigen Jobcenter, im Rahmen dessen ein möglicher unberechtigter Bezug von Sozialleistungen frühzeitig erkannt und somit nachfolgend unterbunden werden kann.

Die Übermittlung personenbezogener Daten von Schülerinnen und Schülern von Schulen und Schulaufsichtsbehörden an andere öffentliche Stellen ist nach § 120 Absatz 7 Satz 2 Schulgesetz NRW nur zulässig, wenn sie zur Erfüllung einer gesetzlichen Auskunfts-/Meldepflicht erforderlich ist oder ein Gesetz sie erlaubt.

 

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