Private Meldestellen für Tatbestände oder Äußerungen unterhalb der Strafbarkeitsgrenze – Beschreitet die Landesregierung hier einen gefährlichen Pfad?

Kleine Anfrage

Kleine Anfrage 339
der Abgeordneten Enxhi Seli-Zacharias und Sven Tritschler vom 18.08.2022

 

Private Meldestellen für Tatbestände oder Äußerungen unterhalb der Strafbarkeitsgrenze Beschreitet die Landesregierung hier einen gefährlichen Pfad?

„Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant“, so August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, der im Jahre 1841 das Lied der Deutschen dichtete. Dieses Credo nahm im Laufe der deutschen Geschichte erheblichen Schaden. Zwei für Deutschland verheerende Diktaturen förderten einen Hang zur Blockwarterei. Geprägt durch ein ausgeklügeltes Spitzelsystem haben speziell die älteren Mitbürger in den neuen Bundesländern noch einen gewissen Spürsinn für alles, was irgendwo nach Selbigem auch nur riecht.

Dieser feine Spürsinn schlägt an, wenn neu einzurichtende Meldestellen in NRW jetzt auch Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze erfassen, analysieren und protokollieren sollen. Der kritische Beobachter fragt sich hierbei, warum im Auftrag der Landesregierung von Dritten Vorfälle protokolliert werden sollen, wenn sie zwar ggf. unerwünscht, aber doch – was in einem Rechtsstaat wohl entscheidend ist – nicht strafbar und insbesondere durch die grundgesetzlich verbriefte Meinungsfreiheit gedeckt sind?

Auch wenn der direkte Vergleich mit der Stasi historisch abwegig ist, liegt ein Hauch von Gesinnungsschnüffelei in der Luft, da sich die Kriterien für meldewürdige Vorgänge oder Äußerungen strafgesetzlich nicht fassen lassen und mehr oder weniger willkürlichen Vorgaben unterworfen sind. Erfasst werden soll, was nicht erfasst werden darf. So wird der Staat übergriffig und spaltet bewusst und gewollt die Gesellschaft. Ein früheres Mitglied der Bundesregierung, Ex-Staatssekretär im Bundesforschungsministerium, warf der Ministerin Paul auf Twitter Förderung des „Denunziantentums“ und die Schaffung eines „SED-ähnlichen Blockwart-Systems“ vor: „Denunziantentum-fördernd fräst grüne Ministerin i.d. Rechtsstaat. Bin selbst homosexuell & empört über Alltagsschmutzeleien, verurteile aber schärfstens SED-ähnliches Blockwart-System unterhalb der Strafbarkeitsgrenze.“1

Auch von Seiten eines früheren Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs für Nordrhein-Westfalen wurde das geplante Meldestellen-System scharf kritisiert.2 Bemängelt wird das Fehlen „grundlegender rechtsstaatlicher Anforderungen“. Ohne entsprechende gesetzliche Regelungen liefen die Meldestellen Gefahr, „sich zu Denunziationsstellen in privater Hand zu entwickeln“.3

Die erforderlichen Anforderungen an eine Ermittlung auf transparenter rechtsstaatlicher Basis objektiver Tatsachen, die als belastbare Grundlage für staatliche Maßnahmen herangezogen werden können, würden schon deshalb verfehlt, „weil es sich bei ihren Trägern um private Vereine handelt, die von ihrem Selbstverständnis her nicht neutral sind, sondern auf der Seite der potenziell Diskriminierten stehen. […] Jedenfalls fehlt es den Meldestellen an einer gesetzlichen Grundlage, die dem verfassungsrechtlichen Gebot inhaltlicher Bestimmtheit genügt. Es fehlt den Einrichtungen mit anderen Worten an klaren und transparenten Verfahrensregeln“3.

Deutliche Kritik äußerte der frühere Präsident des Verfassungsgerichtshofs für Nordrhein-Westfalen auch in Bezug auf das Melden von Vorgängen unterhalb der Strafbarkeitsgrenze: „Darüber, ob eine Diskriminierung strafbar ist oder nicht, entscheiden in einem Rechtsstaat nicht private Vereine, sondern der Staat in dafür vorgesehenen Verfahren bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht. Letzteren obliege auch die Prüfung, ob und inwieweit eine vermeintliche Diskriminierung unter Umständen vom Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt ist“2.

Ähnliche Kritik kam von CDU-Stadträten im Ruhrgebiet. Die Rede ist von der Installation eines „Spitzelsystem[s] nach Stasi-Manier“.4 Weiter heißt es: „Aber mit solch einem Meldesystem von Vorgängen unterhalb der Strafbarkeitsgrenze wird das gesellschaftliche Klima völlig vergiftet. Das ist eine Übergriffigkeit des Staates. Damit fördert das Land eine Blockwartmentalität von Bürgern – und das wollen wir nicht. […] Ich hätte mir in meinen kühnsten Alpträumen nicht vorstellen können, zu welcher linken Gesinnungsschnüffelei man in der wiedervereinigten Bundesrepublik einmal bereit sein würde.“ Am Horizont würde gar bereits „der Ungeist eines Überwachungsstaates“ gesehen.

Wir fragen daher die Landesregierung:

  1. Inwiefern sieht die Landesregierung ein Problem darin, dass Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze als legales Verhalten zukünftig staatlich gemeldet, registriert und angezeigt werden können?
  2. Inwiefern sieht die Landesregierung die Gefahr der Wiederbelebung eines in Deutschland zum Glück eigentlich überwundenen, staatlich organisierten Denunziantentums?
  3. Mit welchen Maßnahmen wird die Landesregierung dieser möglichen Wiederbelebung entgegentreten?
  4. Inwiefern werden durch die Meldestellen nach Ansicht der Landesregierung die Grenzen zwischen strafrechtlich relevant bzw. irrelevant oder auch legal bzw. illegal von staatlicher Seite verschoben?
  5. Wie und auf Basis welcher rechtlichen Grundlage definiert die Landesregierung die Grenze zwischen einer grundgesetzlich geschützten Meinungsäußerung und einer für die Meldestellen erfassungswürdigen Äußerung unterhalb der strafrechtlichen Relevanz?

Enxhi Seli-Zacharias
Sven Tritschler

 

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1 Vgl. https://www.tichyseinblick.de/daili-es-sentials/nrw-gruene-cdu-geplante-meldestellen-blockwartssystem/; Original-Zitat auf Twitter vom 17.07.22.

2 Vgl. https://www.ruhrbarone.de/anti-diskriminierungsstellen-in-nrw-gefahr-von-denunziationsstellen-in-privater-hand/211369; Originalquelle siehe Kölner Stadtanzeiger, Ausgabe vom 30.07.2022; S. 4.

3 Kölner Stadtanzeiger, Ausgabe vom 30.07.2022; S.4.

4 Vgl. https://www.waz.de/staedte/oberhausen/cdu-chef-empoert-ueber-nrw-meldestellen-gegen-diskriminierung-id235981821.html.


Die Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration hat die Kleine Anfrage 339 mit Schreiben vom 29. September 2022 namens der Landesregierung beantwortet.

  1. Inwiefern sieht die Landesregierung ein Problem darin, dass Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze als legales Verhalten zukünftig staatlich gemeldet, registriert und angezeigt werden können?

Es besteht keine Vergleichbarkeit zwischen dem Strafrecht und dem Wesen der Tätigkeit der avisierten Meldestellen. Das Strafrecht zielt auf individuelle Verantwortlichkeit für bestimmte, in den Strafgesetzen umschriebene Verhaltensweisen ab. Die Tätigkeit der Meldestellen hingegen ist phänomenologisch veranlasst und gerade nicht auf konkrete natürliche Personen bezogen.

  1. Inwiefern sieht die Landesregierung die Gefahr der Wiederbelebung eines in Deutschland zum Glück eigentlich überwundenen, staatlich organisierten Denun­ziantentums?

Die Gefahr besteht nicht.

  1. Mit welchen Maßnahmen wird die Landesregierung dieser möglichen Wiederbele­bung entgegentreten?

Siehe Beantwortung zur Frage 2.

  1. Inwiefern werden durch die Meldestellen nach Ansicht der Landesregierung die Grenzen zwischen strafrechtlich relevant bzw. irrelevant oder auch legal bzw. illegal von staatlicher Seite verschoben?

Die Tätigkeit der Meldestellen zielt auf die Erfassung eines Phänomens ab. Die Bewertung etwaiger strafrechtlicher Relevanz obliegt allein den Strafverfolgungsbehörden.

  1. Wie und auf Basis welcher rechtlichen Grundlage definiert die Landesregierung die Grenze zwischen einer grundgesetzlich geschützten Meinungsäußerung und einer für die Meldestellen erfassungswürdigen Äußerung unterhalb der strafrecht­lichen Relevanz?

Schutzbereich und Schranken des Grundrechts auf Meinungsfreiheit ergeben sich aus Artikel 5 Absatz 1 und 2 des Grundgesetzes.

 

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