Kleine Anfrage 947
der Abgeordneten Enxhi Seli-Zacharias vom 03.01.2023
Pull-Faktor Bürgergeld: Erhalten ausreisepflichtige, abgelehnte Asylbewerber bald eines der höchsten arbeitsfreien Realeinkommen weltweit?
Im europäischen Vergleich erhalten ausreisepflichtige abgelehnte Asylbewerber, deren Abschiebung aus unterschiedlichen Gründen nicht vollzogen wird, in Deutschland überproportional hohe Sozialleistungen. Im Jahre 2021 standen ca. 75.000 ausreisepflichtigen Personen gerade einmal ca. 2.400 Rückführungen (inkl. Dublin-Rücküberstellungen) gegenüber. In der Regel erhalten diese Menschen – trotz bestehender Verpflichtung zur Ausreise1 – einen Duldungsstatus.
Der Duldungsstatus führt dazu, dass die Bezüge in der Regel nach 18 Monaten auf das übliche Grundsicherungsniveau angehoben werden. Es handelt sich hierbei um die sogenannten Analogleistungen. In diesem Zusammenhang greifen dann auch die Regelungen in Verbindung mit der Sozialhilfe des Sozialgesetzbuches. Dazu zählen u.a. höhere Regelbedarfe und eine Krankenversicherungskarte ohne Einschränkungen beim Behandlungsanspruch.
Eine derart großzügige Praxis bei eigentlich doch ausreisepflichtigen Personen ist im europäischen Vergleich eher unüblich. Deutschland nimmt auch hier eine Außenseiterrolle ein. Mit der Einführung des Bürgergelds wird sich der Abstand zu den europäischen Nachbarn noch weiter vergrößern. Wie die WELT in einem Bericht ausführt, fällt die finanzielle Unterstützung für diesen Personenkreis bei unseren europäischen Nachbarn wesentlich bescheidener aus:
„Die Niederlande verfolgen seit langem das sogenannte „Bed, Bad, Brood“-Programm (Bett, Bad, Brot) für abgelehnte Asylbewerber, um die Ausreisewilligkeit zu erhöhen. […] In Luxemburg hat ein erwachsener abgelehnter Asylbewerber kein Anrecht mehr auf monatliche Sozialleistungen. […] In Großbritannien erhalten „abgelehnte Asylbewerber 40,85 Pfund (47 Euro) pro Woche und, falls sie staatlicherseits in Einrichtungen mit Vollverpflegung untergebracht sind, 8,24 Pfund wöchentlich. […] In der Schweiz greift für Abgelehnte die sogenannte Nothilfe. Laut einem Sprecher des dortigen Staatssekretariats für Migration besteht diese aus einem „nicht einschränkbaren Minimalanspruch auf Nahrung, Kleidung und Unterkunft. […] In Griechenland gibt es nach Abschluss des Verfahrens keine Sozialleistungen mehr, weder für anerkannte noch für abgelehnte Asylbewerber. […] In Frankreich gibt es für Abgelehnte keinen Anspruch auf Grundsicherung, es bestehen aber Sonderregelungen wie eine temporäre Aufenthaltserlaubnis für Erkrankte.“2
Zudem gibt es in Frankreich strenge Verfahren für Asylbewerber, die im Rahmen der Sekundärmigration ins Land kommen. Der Anspruch wird teilweise auf eine Notunterkunft reduziert.3
Als zusätzlicher Pull-Faktor kommen die – im internationalen Vergleich ebenfalls unüblichen – Bleiberechtsregelungen hinzu, die zu einem sogenannten „Spurwechsel“ führen sollen. Dazu zählen die Beschäftigungs- und Ausbildungsduldung sowie aktuell das Chancen-Aufenthaltsrecht – Regelungen, die allesamt zu einer Verfestigung des Aufenthalts für ausreisepflichtige Personen (und perspektivisch zu einer späteren Einbürgerung) führen sollen.
Wie die monatliche Asyl-Statistik des BAMF zeigt, führen diese Pull-Faktoren zu im internationalen Vergleich überproportional hohen Asylzugangszahlen.4 Danach hat Deutschland regelmäßig ähnlich viele Asylbewerberzugänge wie Australien, Neuseeland, Kanada und die USA zusammen.
Auffällig sind die verhältnismäßig geringen Zahlen in den EU-Ersteinreiseländern Griechenland, Italien und Spanien, die gemäß der Dublin-III-Verordnung doch eigentlich in der Regel für die Asylverfahren zuständig wären. Sehr geringe Zahlen werden zudem in Bulgarien, Dänemark, Estland, Finnland, Irland, Kroatien, Lettland, Litauen, Portugal, Rumänien, Schweden, der Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn verzeichnet.
Anhand der Zahlen wird sehr deutlich, dass Deutschland auch in diesem Bereich eine im europäischen Ausland vermutlich gern gesehene Außenseiterrolle einnimmt.
Wenn die Bundesinnenministerin in einem Interview mit der WELT daher behauptet: „Es gibt keine Anreize, die wir setzen. Menschen fliehen vor Krieg und Terror.“5, dann ist diese Behauptung – allein durch die Zahlen belegt – mindestens bei den Nicht-Ukrainern nicht haltbar.
Die eigentliche – im Asylverfahren noch nachzuweisende – „Flucht vor Krieg und Terror“ ist bei einer Flucht aus den außereuropäischen Hauptherkunftsländern, oftmals über die sogenannte „Westbalkanroute“, zudem beim zugelassenen Grenzübertritt nach Deutschland (zwangsläufig aus einem sicheren Drittland heraus) längst beendet.
Ich frage daher die Landesregierung:
- Welche weiteren Informationen liegen der Landesregierung zur Höhe der Sozialleistungen für abgelehnte Asylbewerber in den anderen EU-Ländern vor?
- Welche Informationen liegen der Landesregierung zur Höhe der Sozialleistungen für abgelehnte Asylbewerber in den 4 EFTA-Staaten, in Großbritannien sowie in den Westbalkanstaaten vor?
- Inwiefern betrachtet die Landesregierung in diesem Zusammenhang – anders als die Bundesinnenministerin – die in Deutschland ausgezahlten Sozialleistungen auch für Ausreisepflichtige, die Bleiberechtsregelungen für Geduldete sowie die verhältnismäßig geringen Rückführungszahlen als Pull-Faktoren für die anhaltende Sekundärmigration nach Deutschland?
- Welche Anstrengungen wird die Landesregierung in der laufenden Legislaturperiode auf Bundesebene unternehmen, um die Höhe der ausgezahlten Sozialleistungen für ausreisepflichtige Personen – im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten – deutlich zu reduzieren, um diese Leistungen somit an den Standard anderer EU-Staaten anzupassen?
- Inwiefern wird sich die Landesregierung in der laufenden Legislaturperiode bei ausreisepflichtigen Personen – im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten – für eine verstärkte Anwendung des Sachleistungsprinzips einsetzen – insbesondere auch nach dem Übergang vom Asylbewerberleistungsgesetz zu SGB-II-Leistungen bzw. zum Bürgergeld nach bereits 18 Monaten?
Enxhi Seli-Zacharias
1 Vgl. AufenthG §50
2 Vgl. Bürgergeld bedeutet wohl höchste Sozialhilfe für Asylzuwanderer in EU – WELT (Online-Ausgabe 20.11.2022)
3 Vgl. Migrantenlager nahe des Pariser Nordbahnhofs erneut geräumt (nau.ch)
4 Vgl. h t t p s : / / w w w. b a mf .d e / S h a re d Docs/Anlagen/DE/Statistik/AsylinZahlen/aktuelle-zahlen-november-2022.pdf?__blob=publicationFi l e & v= 3 S.15
5 Vgl. h t tp s : // w ww . we l t .de/politik/deutschland/plus242724553/Nancy-Faeser-zu-Asyl-Zuzug-Es-gibt-keine-Anreize-die-wir-s e tz e n . html
Die Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen hat die Kleine Anfrage 947 mit Schreiben vom 6. Februar 2023 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales sowie dem Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten, Internationales sowie Medien und Chef der Staatskanzlei beantwortet.
- Welche weiteren Informationen liegen der Landesregierung zur Höhe der Sozialleistungen für abgelehnte Asylbewerber in den anderen EU-Ländern vor?
- Welche Informationen liegen der Landesregierung zur Höhe der Sozialleistungen für abgelehnte Asylbewerber in den 4 EFTA – Staaten, in Großbritannien sowie den Westbalkanstaaten vor.
Die Fragen 1 und 2 werden aufgrund des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet. Der Landesregierung liegen keine Informationen zur Höhe der Sozialleistungen für abgelehnte Asylbewerber in anderen Staaten im Sinne der Fragestellungen vor.
- Inwiefern betrachtet die Landesregierung in diesem Zusammenhang – anders als die Bundesinnenministerin – die in Deutschland ausgezahlten Sozialleistungen auch für Ausreisepflichtige, die Bleiberechtsregelungen für Geduldete sowie die verhältnismäßig geringen Rückführungszahlen als Pull-Faktoren für die anhaltende Sekundärmigration nach Deutschland?
Die Gründe für Zuwanderung und Flucht nach Deutschland sind individuell und im Einzelfall zu betrachten und entziehen sich damit einer pauschalen Bewertung.
- Welche Anstrengungen wird die Landesregierung in der laufenden Legislaturperiode auf Bundesebene unternehmen, um die Höhe der ausgezahlten Sozialleistungen für ausreisepflichtige Personen – im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten – deutlich zu reduzieren, um diese Leistungen somit an den Standard anderer EU-Staaten anzupassen?
Die Landesregierung sieht hierzu keine Veranlassung.
- Inwiefern wird sich die Landesregierung in der laufenden Legislaturperiode bei ausreisepflichtigen Personen – im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten – für eine verstärkte Anwendung des Sachleistungsprinzips einsetzen – insbesondere auch nach dem Übergang vom Asylbewerberleistungsgesetz zu SGB-II-Leistun-gen bzw. zum Bürgergeld nach bereits 18 Monaten?
Die Landesregierung sieht im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende in der laufenden Legislaturperiode bei ausreisepflichtigen Personen keinen Anlass, sich für eine verstärkte Anwendung des Sachleistungsprinzips einzusetzen.
In den Zentralen Unterbringungseinrichtungen (ZUE) des Landes erhalten Asylbewerberinnen und -bewerber den notwendigen Bedarf bereits im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten als Sachleistung.