Sexualisierte Gewalt im Sport – Intervention stärken, fachspezifische Beratungs- und Betreuungsangebote ausbauen und Opfer konsequent schützen!

Antrag
vom 16.03.2021

Antragder AfD-Fraktion vom 16.03.2021

 

Sexualisierte Gewalt im Sport Intervention stärken, fachspezifische Beratungs- und Betreuungsangebote ausbauen und Opfer konsequent schützen!

I. Ausgangslage

Der organisierte Sport stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt, schafft Integrationsmöglichkeiten für alle Bevölkerungsschichten und fördert das seelische wie körperliche Wohlbefinden. Er ist daneben allerdings auch ein Abbild der Gesellschaft und ihrer sozialen Probleme. Es wäre daher verfehlt anzunehmen, dass Fälle von sexualisierter Gewalt im Sport nicht genauso oft – wenn nicht sogar häufiger – vorkommen wie in allen anderen Bereichen der Gesellschaft.

Das Thema hat in Deutschland bisher nicht die Aufmerksamkeit bekommen, die notwendig wäre. Laut der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs ist der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen im Breiten- und Leistungssport immer noch ein Tabuthema.1 Das Kernproblem bildet hierbei das statistisch nur bedingt zu erfassende Dunkelfeld. Niemand kann ausschließen, dass Vereine mit ihren Jugendabteilungen zunächst nicht erkennbare und strafrechtlich nicht in Erscheinung getretene Pädophile anziehen. Die Erfassung von Kindesmissbrauchsfällen ist und bleibt laut polizeilicher Kriminalstatistik ein großes Problem: Im Jahre 2019 „wurden 13.670 Kinder als Opfer von sexuellem Missbrauch erfasst – das sind nur die angezeigten, also bekanntgewordenen Fälle. Die Dunkelziffer ist nach Einschätzung von Fachleuten viel größer“.2 Dem entspricht, dass Prävalenzdaten die Problematik nur annäherungsweise darstellen können, weil Fälle sexualisierter Gewalt im Sport oft im Verborgenen bleiben und auch mit Hilfe wissenschaftlicher Untersuchungen nicht vollständig erhoben werden können.

Die Aktualität des Themas wird nicht zuletzt durch die großangelegte Fallstudie „Sexualisierte Gewalt und sexueller Kindesmissbrauch im Kontext des Sports“ unterstrichen, die von der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in Auftrag gegeben worden ist. Die Laufzeit dieser Studie endet am 1. November 2021.3 Angesichts der in den nächsten Monaten wahrscheinlichen stufenweisen Öffnung der Sportstätten besteht jedoch bereits zum jetzigen Zeitpunkt akuter Handlungsbedarf.

Die Ombudschaft der Jugendhilfe NRW verwies im Juni 2019 in einer Ausschussanhörung auf den Umstand, dass Gewalt gegen Kinder und Jugendliche „vielfach an einem für die jungen Menschen vertrauensvoll erscheinendem Ort geschieht. Wo Vertrauen für sie Teil ihres Alltags ist, ist kein subjektiver Raum für ein besonderes Schutzbedürfnis vorhanden.“ So nutze der Täter die von ihm zuvor geschaffene Atmosphäre des persönlichen Vertrauens.4 Gerade Sportvereine bieten Tätern zahlreiche Situationen, um das Vertrauen ihrer potentiellen Opfer zu gewinnen.

Das Ausmaß des Dunkelfelds im Bereich des Missbrauchs im organisierten Sport darf keineswegs unterschätzt werden. So geht eine Studie der Sporthochschule Köln und des Universitätsklinikums Ulm aus dem Jahr 2019 von insgesamt mehr als 200.000 möglichen Betroffenen deutschlandweit aus. „Eine Dimension, die mit den Zahlen der Missbrauchsfälle in der Kirche vergleichbar ist“.5

Sexualisierte Gewalt betrifft auch den Leistungssport: So hat ein Drittel der Kadersportler noch vor Vollendung des 18. Lebensjahrs sexualisierte Gewalt erfahren.6 Die Mehrheit der betroffenen Athleten ist weiblich, wobei das Ausmaß unentdeckter Gewalt gegenüber Jungen und Männern enorm ist, wie eine Pilotuntersuchung über Gewalterfahrungen von Männern in Deutschland unlängst dargelegt hat.7 Aus einer Bevölkerungsumfrage des Ministeriums des Innern zu „Sicherheit und Gewalt in Nordrhein-Westfalen“ geht u.a. hervor, dass im Schnitt weniger als ein Viertel der Vergewaltigungen zur Anzeige gebracht wird.8 Dies unterstreicht wiederum die Bedeutung, die der Erfassung des Dunkelfelds zukommt.

Der Landessportbund NRW (LSB) hat zwar in den vergangenen Jahren mehrere Maßnahmen in die Wege geleitet, um Sportler und Vereinsverantwortliche für das Thema der sexualisierten Gewalt zu sensibilisieren. Diese sind jedoch überwiegend dem Bereich der Prävention zuzuordnen. Dazu gehört etwa die Integration eines Lehrmoduls zur geschlechtsbezogenen Pädagogik in die Ausbildung zum Jugend- und Übungsleiter, die Einrichtung einer Sonderlizenz B zur Übungsleiterin für Selbstbehauptung und -verteidigung sowie Fortbildungsmaßnahmen für Vereine. Darüber hinaus existiert die Kampagne „Schweigen schützt die Falschen“, die es Sportverbänden sowie Stadt- und Kreissportbünden ermöglicht, Hilfe bei der Enttabuisierung und Prävention durch den LSB zu bekommen.9 Weitere Präventionsmaßnahmen sind im 10-Punkte-Aktionsprogramm des LSB zusammengefasst.10

Nachholbedarf besteht aber insbesondere im Bereich der Intervention. Im Rahmen einer Befragung gaben 46 Prozent der Landessportbünde an, Unterstützung bei der Beratung zum Umgang mit Verdachts-/Vorfällen zu benötigen.11 Dies erklärt sich u.a. aus der Unsicherheit, die bei Vereinen und Verbänden im Umgang mit entsprechenden Vorfällen herrscht. Nicht selten sind es juristische Unklarheiten, die verhindern, dass Missbrauchsfälle konsequent aufgeklärt werden. Wann kann oder muss ein Fall angezeigt werden? Immer auch gegen den Willen des/der Geschädigten? Wie sollte vorgegangen werden, falls ein Opfer anonym bleiben will? Wie soll die Vereinsführung mit Beschuldigungen konkret umgehen? Und was passiert mit Vorwürfen gegenüber denjenigen, die den Verein bereits vor langer Zeit gewechselt haben? Bis heute fehlt eine zentrale niederschwellige Anlaufstelle für Vorfälle aus dem Bereich sexualisierter Gewalt auf Landesebene, die alle Aufgaben von Beratung und Betreuung bis hin zur Einleitung der strafrechtlichen Verfolgung übernimmt, Richtlinien zum Umgang mit Beschwerden erarbeitet und diese den Vereinen an die Hand gibt. Eine solche übergeordnete Stelle könnte gleichzeitig die Vernetzung der einzelnen Beratungsstellen sowie die Kooperation mit den Fachverbänden und Vereinen vorantreiben und – wo nötig – Fortbildungen anbieten. Weder der nordrhein-westfälische Landessportbund noch die Fachverbände verfügen über genügend qualifiziertes Personal, um solche Pläne umzusetzen. So betonte der LSB NRW im Juni 2019, dass die Sportorganisationen im Bereich der Intervention auf die Zusammenarbeit und Beratung durch Fachstellen zwar angewiesen, deren Kapazitäten aber weitestgehend erschöpft seien. Zudem werde die fachliche Betreuung durch die Jugendämter auf Grund fehlender materieller sowie personeller Ressourcen abgelehnt.12

Um die defizitäre Situation im Bereich der Intervention gegenüber sexualisierter Gewalt zu verbessern, erscheint die Einrichtung einer Clearing-Stelle im Sport auf Landesebene überfällig. Ein im September 2020 an den Innenausschuss des Landtags adressiertes Schreiben des Bundesbeauftragten für Fragen des sexuellen Missbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, forderte das Land Nordrhein-Westfalen zur Entwicklung eines „eigenen ressortübergreifenden Masterplans zur Verbesserung des Schutzes von Minderjährigen vor sexueller Gewalt und ihrer Folgen“ auf. Im dazugehörigen Positionspapier wird u. a. empfohlen, Clearing-Stellen zur Früherkennung einzurichten, die in verschiedenen Bereichen, wie z. B. dem Gesundheitssektor, angesiedelt sind.13 Die Leiterin der Landesfachstelle Prävention sexualisierte Gewalt (PsG) NRW betonte im Ausschuss für Familie, Kinder und Jugend Ende November 2020, dass es Bereiche gäbe, welche ihre Fachstelle bisher nicht abdecke. So wäre letztere keine Anlaufstelle für anonyme Hinweise bei Verdacht auf sexualisierte Gewalt. Ebenfalls stünde die Wahrnehmung der Belange von Opfern und ihrer Angehörigen genauso wenig im Fokus wie die Aufarbeitung von Altfällen. Daraus folgt, dass in den genannten Bereichen Ergänzungsbedarf besteht.14 Dies geht ebenfalls aus der Anhörung der LWL-Schul- und Jugenddezernentin, Birgit Westers, hervor, die eine „Scharnierfunktion“ in NRW vermisst, diese jedoch nicht im Zuständigkeitsbereich eines Landesbeauftragten sieht.15 Die kommunalen Jugendämter können einer solchen Aufgabe ebenso wenig gerecht werden, da ihnen oftmals die personellen, zeitlichen und finanziellen Ressourcen fehlen, so die ständige Kindervertretung der Deutschen Kinderhilfe e. V.16

Die Vorteile einer Clearing-Stelle Sport sind insbesondere von der an der Bergischen Universität Wuppertal lehrenden Sportsoziologin Prof. Dr. Bettina Rulofs u.a. im Rahmen einer Situationsanalyse herausgearbeitet worden, die die „Beratung durch eine Person mit tiefgehender Kenntnis des Sports und seiner Eigenheiten“ als „zusätzlich notwendig“ erachtet.17 Sie könne dazu beitragen, dass Fälle sexualisierter Gewalt gegenüber Sportlern aller Altersklassen früher erkannt und gemeldet werden, damit sich Missbrauchsfälle wie im Fechtzentrum in Tauberbischofsheim, um nur ein prominentes Beispiel zu nennen, nicht länger über Jahre hinwegziehen, weil Beschwerden über Trainer im Sande verlaufen oder vertuscht werden.18

II. Der Landtag stellt fest, dass

  1. sexualisierte Gewalt, insbesondere gegen Kinder und Jugendliche, nicht nur im familiären oder institutionellen Kontext stattfindet, sondern auch innerhalb des Breiten-und Leistungssports, und dort vermehrt in den Fokus gerückt werden muss;
  2. bei der sexualisierten Gewalt im Sportbereich von einem allein mit wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden kaum zu fassenden Dunkelfeld ausgegangen werden muss;
  3. es trotz der zahlreich verfügbaren Präventionsmaßnahmen Nachholbedarf im Bereich der Intervention und der Früherkennung gibt;
  4. auf Landesebene eine zentrale, permanente Anlaufstelle für Verdachts-/Vorfälle sexualisierter Gewalt im Sport notwendig ist, um Aufklärung, Beratung, Betreuung und die Einleitung strafrechtlicher Verfolgung niederschwellig sicherzustellen;
  5. Jugendämter auf Grund ihrer Auslastung kaum in die Lage versetzt werden können zusätzlich die Aufgaben einer Clearing-Stelle Sport zu übernehmen.

III. Der Landtag fordert die Landesregierung auf,

  1. eine Clearing-Stelle Sport auf Landesebene (z.B. beim LSB) einzurichten und mit ausreichenden Mitteln auszustatten, die es ihr erlauben, Opfer sexualisierter Gewalt zu betreuen und zu beraten, strafrechtliche Schritte gegen die Täter einzuleiten und Fortbildungsmaßnahmen für verantwortliche Akteure im Sportbereich anzubieten;
  2. nach einer Evaluierungsphase sowie bei Bedarf die Einrichtung weiterer Clearing-Stellen, so etwa im Gesundheitssektor oder dem Schulwesen, in Erwägung zu ziehen;
  3. Rahmenbedingungen zu schaffen, die es der/den Clearing-Stelle/n ermöglichen, sich mit dem Bundesbeauftragten für Fragen des sexuellen Missbrauchs, der Landesfachstelle PsG NRW, den Sportverbänden sowie den Vereinen dauerhaft und effektiv zu vernetzen, um auf Fälle schneller zu reagieren

Andreas Keith
Iris Dworeck-Danielowski
Markus Wagner

und Fraktion

 

Antrag als PDF

 

1 https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/sexueller-missbrauch-sport-100.html, abgerufen am 10.02.2021.

2 https://www.zeit.de/gesellschaft/2020-10/sexueller-missbrauch-kinder-sport-kommission-aufarbeitung, abgerufen am 10.02.2021.

3 https://www.aufarbeitungskommission.de/kommission/ueber-uns/forschungsprojekte-studien/studien/fallstudie-sexualisierte-gewalt-im-sport/, abgerufen am 10.02.2021.

4 https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMST17-1592.pdf, S. 1.

5 https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/sexueller-missbrauch-sport-100.html, abgerufen am 10.02.2021.

6 Broschüre »Safe Sport«: Schutz von Kindern und Jugendlichen im organisierten Sport in Deutschland Erste Ergebnisse des Forschungsprojekts zur Analyse von Ursachen, Präventions- und Interventionsmaßnahmen bei sexualisierter Gewalt, S. 8; abrufbar unter: https://www.dsj.de/fileadmin/user_upload/Handlungsfelder/Praevention_Intervention/sexualisierte_Gewalt/SafeSp  ort-Ergebnisbericht_23.11.2016-Final.pdf, abgerufen am 10.02.2021.

7 https://www.bmfsfj.de/blob/84590/a3184b9f324b6ccc05bdfc83ac03951e/studie-gewalt-maenner-langfassung-data.pdf, abgerufen am 10.02.2021. 8https://www.mhkbg.nrw/sites/default/files/media/document/file/Forschungsbericht_Studie_Sicherheit_und_Gewal  t_in_Nordrhein-Westfalen.pdf, S. 76, abgerufen am 10.02.2021. In Schleswig-Holstein war die Anzeigequote bei Sexualdelikten sogar noch geringer, nämlich 8,1 Prozent; siehe dazu: https://kfn.de/wp-content/uploads/Forschungsberichte/FB_129.pdf, S. 26, abgerufen am 10.02.2021.

9 https://www.lsb.nrw/unsere-themen/gegen-sexualisierte-gewalt-im-sport, abgerufen am 10.02.2021. 10https://www.lsb.nrw/fileadmin/global/media/Downloadcenter/Sexualisierte_Gewalt/10_Punkte_Aktionsprogramm .pdf, abgerufen am 10.02.2021.

11 Siehe Bericht »Safe Sport«, S. 17 (wie unter Fußnote 5).

12 https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMST17-1574.pdf: eines der Hauptprobleme bildet der Umgang mit auffällig gewordenen Mitarbeitern, denn momentan gibt es beispielsweise keine Regelungen bezüglich eines Arbeitsverbotes für Vorbestrafte.

13 http://landtag/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMZ17-526.pdf S. 7.

14 http://landtag/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMST17-3328.pdf

15 http://landtag/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMST17-3341.pdf

16 https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMST17-1591.pdf

17 https://fis.dshs-koeln.de/portal/files/1588282/FO_Schweigen_07.pdf, S. 29, abgerufen am 10.02.2021.

18 https://www.welt.de/vermischtes/article163808068/Er-drueckte-mich-aufs-Bett.html, abgerufen am 11.03.2021.