Sprunghafter Anstieg von Zwangsheiraten nach der Corona-Pandemie. Was tut die Landesregierung für den Schutz junger Mädchen?

Kleine Anfrage
vom 18.08.2023

Kleine Anfrage 2359

der Abgeordneten Enxhi Seli-Zacharias, Zacharias Schalley und Markus Wagner AfD

Sprunghafter Anstieg von Zwangsheiraten nach der Corona-Pandemie. Was tut die Landesregierung für den Schutz junger Mädchen?

Im Jahr 2021 äußerte sich die damalige NRW-Gleichstellungsministerin Ina Scharrenbach besorgt über die Zwangsverheiratung minderjähriger Personen im Ausland während der Ferienzeit: „Bei einigen endet der Urlaub in einer Zwangsehe. Das ist zutiefst menschenverachtend.“1 Grund für die Äußerung der Ministerin war ein zu verzeichnender sprunghafter Anstieg bei der Zahl der Zwangsheiraten in der Polizeilichen Kriminalstatistik des Jahres 2020. Diese betrug 26 Fälle im Vergleich zu 14 im Vorjahr, ein Anstieg um 86 Prozent. Blickt man auf die Zahlen, die aus einer Antwort der Landesregierung auf eine Anfrage der Abgeordneten der AfD-Fraktion Enxhi Seli-Zacharias (Drucksache 18/867) hervorgehen, hielt diese Entwicklung auch im Jahr 2021 an. So konnten in jenem Jahr 27 Fälle verzeichnet werden.

Dabei handelt es sich bei diesen Zahlen lediglich um das Hellfeld. Die Landesregierung betonte in ihrer Antwort daher auch: „Es handelt sich um ein Delikt, bei dem davon auszugehen ist, dass es überwiegend im Dunkelfeld stattfindet“. Daher ist von deutlich mehr Fällen auszugehen als in der Kriminalstatistik erfasst werden. Eine anonyme und nicht-repräsentative Online-Umfrage von Terre des Femmes etwa ergab für das Jahr 2018 1.847 Fälle von angedrohten oder vollzogenen Früh- und Zwangsheiraten in Deutschland.2 Auch wenn die Zahlen nicht repräsentativ sind, zeigen sie doch die mutmaßlichen Ausmaße des Dunkelfelds.

Neben dem Phänomen der Zwangsehe ist auch die Frühehe zu betrachten, da diese ebenfalls einen Rechtsverstoß darstellt. Als Frühehe wird dabei jede Eheschließung angesehen, bei der mindestens eine der beteiligten Personen minderjährig ist. Nicht selten bestehen Überschneidungen zwischen beiden Phänomenbereichen.

Auf Basis solcher Ehen kommt es nicht zuletzt auch zur Einreise der Ehepartner in die Bundesrepublik. Die Modalitäten eines solche Nachzugs des Ehepartners sind in § 30 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) geregelt. Dort heißt es: „(1) Dem Ehegatten eines Ausländers ist eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn 1. beide Ehegatten das 18. Lebensjahr vollendet haben, 2. der Ehegatte sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen kann und 3. der Ausländer a) eine Niederlassungserlaubnis besitzt, b) eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU besitzt, c) eine Aufenthaltserlaubnis nach den §§ 18d, 18f oder § 25 Absatz 1 oder Absatz 2 Satz 1 erste Alternative besitzt, d) seit zwei Jahren eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und die Aufenthaltserlaubnis nicht mit einer Nebenbestimmung nach § 8 Abs. 2 versehen oder die spätere Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nicht auf Grund einer Rechtsnorm ausgeschlossen ist; dies gilt nicht für eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative, e) eine Aufenthaltserlaubnis nach § 7 Absatz 1 Satz 3 oder nach den Abschnitten 3, 4, 5 oder 6 oder § 37 oder § 38 besitzt, die Ehe bei deren Erteilung bereits bestand und die Dauer seines Aufenthalts im Bundesgebiet voraussichtlich über ein Jahr betragen wird; dies gilt nicht für eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative, f) eine Aufenthaltserlaubnis nach § 38a besitzt und die eheliche Lebensgemeinschaft bereits in dem Mitgliedstaat der Europäischen Union bestand, in dem der Ausländer die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten innehat, oder g) eine Blaue Karte EU, eine ICT-Karte oder eine Mobiler-ICT-Karte besitzt.“ Für die zuständigen Behörden ist es schwer, die Einreise der Ehepartner von Zwangsverheirateten zu identifizieren und den Nachzug zu verhindern, um so die Betroffenen zu schützen. Bisher hat die Politik noch keine wirksame Gesetzesänderung angestrebt, um diesen Zustand zu verbessern.

Dagegen wurden in Nordrhein-Westfalen andere Maßnahmen durchgeführt, um gegen das Phänomen der Zwangsehe vorzugehen. Mit der Öffentlichkeitskampagne EXIT.NRW versuchte die Landesregierung bereits im Jahr 2021 gegen die Entwicklung anzugehen. Mittlerweile ist die Website der Kampagne jedoch nicht mehr erreichbar.3 Dies wirft die Frage auf, wie die Landesregierung in Zukunft gegen illegale Zwangsheiraten vorgehen will.

Wir fragen daher die Landesregierung,

  1. Wie viele Personen, die in NRW wohnhaft sind, sind in den Jahren 2018–2022 zwangs-oder frühverheiratet worden? (Bitte um Angabe des Zeitpunkts, des Alters und des Migrationshintergrunds, des Vornamens, des Orts der Eheschließung nach Land, Stadt und Standesamt, der Staatsbürgerschaft und eine Aufschlüsselung nach Jahren)
  2. Welche Maßnahmen will die Landesregierung ergreifen, um gegen die Zwangsverheiratung minderjähriger Deutscher im Ausland vorzugehen?
  3. Wurden in den vergangenen fünf Jahren Kinder und Jugendliche aufgrund einer Zwangs- oder Frühehe von nordrhein-westfälischen Jugendämtern in Obhut genommen? (Bitte aufschlüsseln nach Jahr sowie Alter und Geschlecht sowie Staatsbürgerschaft und Migrationshintergrund der in Obhut genommenen Person)
  4. Wie groß ist die Anzahl der Ausländer je kommunaler Ausländerbehörde, die 2022 eine Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen besaßen? (Wenn möglich inkl. einer Differenzierung zwischen einem Nachzug von Familienangehörigen zu Schutzberechtigten und dem Familiennachzug, der von (drittstaatsangehörigen) Ausländern zu Deutschen oder zu (ebenfalls drittstaatsangehörigen) Ausländern erfolgte)4
  5. Wie verteilen sich die in der Antwort zu Frage 4 genannten Personengruppen – differenziert nach Großeltern-, Eltern- und Kindesnachzug gemäß §§ 30, 32 und 36 AufenthG – auf die einzelnen Herkunftsländer?5

Enxhi Seli-Zacharias
Zacharias Schalley
Markus Wagner

 

Anfrage als PDF

 

1 https:// www .aachener-zeitung.de/nrw-region/faelle-von-zwangsheirat-in-nrw-sprunghaft-angestiegen_aid-59507511.

2 https:// www .frauenrechte.de/unsere-arbeit/themen/gewalt-im-namen-der-ehre/aktuelles/5114-terre-des-femmes-startet-mit-der-berliner-polizei-die-weisse-woche-zur-aufklaerung-zum-thema-zwangsheirat-bundesweite-tdf-umfrage-unter-lehrkraeften-ergibt-1-847-faelle-inkl-verdachtsfaelle.

3 https:// www .mhkbd.nrw/exit.nrw (Fehler 404).

4 In abgewandelter Form bereits in Landtags-Drucksache 16/15011 erfragt und seitens der Landesregierung beantwortet.

5 In abgewandelter Form bereits in Landtags-Drucksache 16/15011 erfragt und seitens der Landesregierung beantwortet.


Die Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration hat die Kleine Anfrage 2359 mit Schreiben vom 20. September 2023 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister des Innern beantwortet.

Vorbemerkung der Landesregierung

Vorab ist anzumerken, dass die für die EXIT-Kampagne gegen Zwangsheirat zuständige Ab­teilung „Gleichstellung“ nach der Landtagswahl 2022 in das Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen ressortiert und somit die Informationsseite „exit.nrw“ in die Homepage des Ministeriums für Kinder, Ju­gend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen (chan-cen.nrw) integriert wurde. Dort stehen die Inhalte der Öffentlichkeit weiter zur Verfügung4.

  1. Wie viele Personen, die in NRW wohnhaft sind, sind in den Jahren 2018-2022 zwangs- oder frühverheiratet worden? (Bitte um Angabe des Zeitpunkts, des Al­ters und des Migrationshintergrunds, des Vornamens, des Orts der Eheschlie­ßung nach Land, Stadt und Standesamt, der Staatsbürgerschaft und eine Auf­schlüsselung nach Jahren)

Datenquelle für die Beantwortung von Fragen zur Kriminalitätsentwicklung ist die Polizeiliche Kriminalstatistik. Sie wird nach bundeseinheitlich festgelegten Richtlinien erstellt. Die Erfas­sung erfolgt nach Abschluss aller kriminalpolizeilichen Ermittlungen und führt häufig zu einem zeitlichen Versatz zwischen Bekanntwerden der Straftat und der statistischen Erfassung. Die Polizeiliche Kriminalstatistik ist eine Jahresstatistik, die zu Jahresbeginn eines Folgejahres für das Vorjahr veröffentlicht wird.

Daten zu Personen, die in Nordrhein-Westfalen wohnhaft und zwangs- oder frühverheiratet worden sind, können aus der Polizeilichen Kriminalstatistik nicht automatisiert ausgewertet werden. Die Polizeiliche Kriminalstatistik bildet allerdings den Straftatbestand der Zwangshei­rat (§ 237 StGB) ab.

Der nachfolgenden Tabelle können die Fälle nach § 237 StGB der Jahre 2018 bis 2022 ent­nommen werden.

 

Jahr Fälle
2018 22
2019 14
2020 26
2021 27
2022 26

 

  1. Welche Maßnahmen will die Landesregierung ergreifen, um gegen die Zwangsver­heiratung minderjähriger Deutscher im Ausland vorzugehen?

Die Bekämpfung von Zwangsheirat ist seit vielen Jahren ein vorrangiges Ziel der Landesre­gierung.

Die vielfältigen Maßnahmen der Landesregierung für Mädchen und junge Frauen, die von Zwangsheirat bedroht oder betroffen sind, richten sich dabei an alle Mädchen und junge Frauen. Um Mädchen und junge Frauen, die von einer Zwangsverheiratung bedroht oder be­troffen sind, unverzüglich unterstützen zu können, fördert das Land die Vorhaltung von Plätzen in Einrichtungen der Jugendhilfe. Diese Förderung stellt sicher, dass den betroffenen Mädchen und jungen Frauen sofort und ohne bürokratischen Aufwand ein anonymer Zufluchtsplatz, pä­dagogische Betreuung sowie bedarfsgerechte Hilfen zur Verfügung gestellt werden können.

Darüber hinaus fördert das Land Angebote und Maßnahmen in Mädchenhäusern und Mäd­chenberatungsstellen in Nordrhein-Westfalen. Mädchen und junge Frauen können sich an diese wenden, v.a. wenn sie sich in besonderen Lebenslagen befinden und / oder von Gewalt bedroht oder betroffen sind.

Ferner fördert die Landesregierung bereits seit 2007 die Fachberatungsstelle gegen Zwangs­heirat des Mädchenhauses Bielefeld e.V. und seit Mitte 2011 das Projekt „Selbstbestimmte Zukunft – gegen Zwangsheirat und patriarchale Gewalt“ des agisra e.V. in Köln. Im Rahmen der Förderung führt die Fachberatungsstelle gegen Zwangsheirat im Mädchenhaus Bielefeld jedes Jahr vor den Sommerferien eine Informationskampagne durch und versendet an alle weiterführenden Schulen in Nordrhein-Westfalen Informationsmaterialien zur Thematik. Dadurch sollen Lehrkräfte für die Gefahren der „Ferien-/ Heiratsverschleppung“ sensibilisiert werden.

Die Förderung dieser qualifizierten, landesweiten Beratungs-, Öffentlichkeits-, Präventions-und Vernetzungsarbeit ist auch weiterhin beabsichtigt.

  1. Wurden in den vergangenen fünf Jahren Kinder und Jugendliche aufgrund einer Zwangs- oder Frühehe von nordrhein-westfälischen Jugendämtern in Obhut ge­nommen? (Bitte aufschlüsseln nach Jahr sowie Alter und Geschlecht sowie Staatsbürgerschaft und Migrationshintergrund der in Obhut genommenen Per­son)

Das Merkmal „Zwangs- oder Frühehe“ wird im Rahmen der Statistik für Inobhutnahmen nach SGB VIII nicht als Anlass bzw. Veranlassung der Maßnahme erfasst, so dass dem Ministerium keine Angaben hierzu vorliegen.

  1. Wie groß ist die Anzahl der Ausländer je kommunaler Ausländerbehörde, die 2022 eine Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen besaßen? (Wenn möglich inkl. einer Differenzierung zwischen einem Nachzug von Familienangehörigen zu Schutzberechtigten und dem Familiennachzug, der von (drittstaatsangehörigen) Ausländern zu Deutschen oder zu (ebenfalls drittstaatsangehörigen) Ausländern erfolgte)

Zur Beantwortung der Frage wird auf die nachfolgende Tabelle (Quelle: AZR-Statistik, Stichtag 31.12.2022) verwiesen. Die dargestellten Zahlen umfassen die Aufenthaltserlaubnisse aus fa­miliären Gründen nach den §§ 28, 30, 32, 33, 36 und 36a AufenthG.

Ausländerbehörde Aufenthaltserlaubnisse      aus     familiären

Gründen

Aachen, StädteRegion 7630
Arnsberg, STV 1027
Bergheim, STV 914
Bielefeld, STV 5165
Bocholt, STV 742
Bochum, STV 5269
Bonn, STV 6986
Borken, KRV 1707
Bottrop, STV 1410
Castrop-Rauxel, STV 679
Coesfeld, KRV 1109
Detmold, STV 963
Dinslaken, STV 730
Dormagen, STV 602
Dorsten, STV 579
Dortmund, STV 8938
Duisburg, STV 7075
Düren, KRV 3339
Düsseldorf, STV 13514
Ennepe-Ruhr-Kreis, KRV 1570
Essen, STV 11619
Euskirchen, KRV 1287
Gelsenkirchen, STV 5312
Gladbeck, STV 1155
Gütersloh, KRV 1707
Gütersloh, STV 1163
Hagen, STV 3154
Hamm, STV 2524
Heinsberg, KRV 1925
Herford, KRV 1224
Herford, STV 1018
Herne, STV 2596
Herten, STV 938
Hochsauerlandkreis, KRV 1306
Höxter, KRV 962
Iserlohn, STV 1374
Kerpen, STV 878
Kleve, KRV 1567
Köln, STV 13842
Krefeld, STV 1675
Leverkusen, STV 1963
Lippe, KRV 2262
Lippstadt, STV 811
Lünen, STV 729
Märkischer Kreis, KRV 2676
Marl, STV 1068
Mettmann, KRV 4292
Minden, STV 1122
Minden-Lübbecke, KRV 1657
Moers, STV 1387
Mönchengladbach, STV 4697
Mülheim a.d. Ruhr, STV 3409
Münster, STV 2892
Neuss, STV 2712
Oberbergischer Kreis, KRV 1968
Oberhausen, STV 4113
Olpe, KRV 1151
Paderborn, KRV 760
Paderborn, STV 1845
Recklinghausen, KRV 1010
Recklinghausen, STV 1554
Remscheid, STV 1402
Rheine, STV 957
Rhein-Erft-Kreis, KRV 3052
Rheinisch Berg. Kreis, KRV 2109
Rhein-Kreis Neuss, KRV 2280
Rhein-Sieg Kreis, KRV 3382
Siegen, STV 1827
Siegen-Wittgenstein, KRV 1307
Soest, KRV 1463
Solingen, STV 1630
Steinfurt, KRV 3011
Troisdorf, STV 972
Unna, KRV 2489
Viersen, KRV 1272
Viersen, STV 846
Warendorf, KRV 1410
Wesel, KRV 1534
Wesel, STV 600
Witten, STV 995
Wuppertal, STV 8358

 

  1. Wie verteilten sich die in der Antwort zu Frage 4 genannten Personengruppen – differenziert nach Großeltern-, Eltern- und Kindesnachzug gemäß §§ 30, 32 und 36 AufenthG – auf die einzelnen Herkunftsländer?

Zur Beantwortung der Frage wird auf die in Anlage 1 dargestellte Tabelle (Quelle: AZR-Statis-tik, Stichtag 31.12.2022) verwiesen. Einen „Großelternnachzug“, wie in der vorstehenden Frage formuliert, kennt das Aufenthaltsgesetz nicht. Diese Personengruppe unterliegt – soweit die gesetzlichen Bestimmungen erfüllt sind – dem Anwendungsbereich von § 36 Abs. 2 Auf-enthG.

 

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