Kleine Anfrage 2359
der Abgeordneten Enxhi Seli-Zacharias, Zacharias Schalley und Markus Wagner AfD
Sprunghafter Anstieg von Zwangsheiraten nach der Corona-Pandemie. Was tut die Landesregierung für den Schutz junger Mädchen?
Im Jahr 2021 äußerte sich die damalige NRW-Gleichstellungsministerin Ina Scharrenbach besorgt über die Zwangsverheiratung minderjähriger Personen im Ausland während der Ferienzeit: „Bei einigen endet der Urlaub in einer Zwangsehe. Das ist zutiefst menschenverachtend.“1 Grund für die Äußerung der Ministerin war ein zu verzeichnender sprunghafter Anstieg bei der Zahl der Zwangsheiraten in der Polizeilichen Kriminalstatistik des Jahres 2020. Diese betrug 26 Fälle im Vergleich zu 14 im Vorjahr, ein Anstieg um 86 Prozent. Blickt man auf die Zahlen, die aus einer Antwort der Landesregierung auf eine Anfrage der Abgeordneten der AfD-Fraktion Enxhi Seli-Zacharias (Drucksache 18/867) hervorgehen, hielt diese Entwicklung auch im Jahr 2021 an. So konnten in jenem Jahr 27 Fälle verzeichnet werden.
Dabei handelt es sich bei diesen Zahlen lediglich um das Hellfeld. Die Landesregierung betonte in ihrer Antwort daher auch: „Es handelt sich um ein Delikt, bei dem davon auszugehen ist, dass es überwiegend im Dunkelfeld stattfindet“. Daher ist von deutlich mehr Fällen auszugehen als in der Kriminalstatistik erfasst werden. Eine anonyme und nicht-repräsentative Online-Umfrage von Terre des Femmes etwa ergab für das Jahr 2018 1.847 Fälle von angedrohten oder vollzogenen Früh- und Zwangsheiraten in Deutschland.2 Auch wenn die Zahlen nicht repräsentativ sind, zeigen sie doch die mutmaßlichen Ausmaße des Dunkelfelds.
Neben dem Phänomen der Zwangsehe ist auch die Frühehe zu betrachten, da diese ebenfalls einen Rechtsverstoß darstellt. Als Frühehe wird dabei jede Eheschließung angesehen, bei der mindestens eine der beteiligten Personen minderjährig ist. Nicht selten bestehen Überschneidungen zwischen beiden Phänomenbereichen.
Auf Basis solcher Ehen kommt es nicht zuletzt auch zur Einreise der Ehepartner in die Bundesrepublik. Die Modalitäten eines solche Nachzugs des Ehepartners sind in § 30 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) geregelt. Dort heißt es: „(1) Dem Ehegatten eines Ausländers ist eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn 1. beide Ehegatten das 18. Lebensjahr vollendet haben, 2. der Ehegatte sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen kann und 3. der Ausländer a) eine Niederlassungserlaubnis besitzt, b) eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU besitzt, c) eine Aufenthaltserlaubnis nach den §§ 18d, 18f oder § 25 Absatz 1 oder Absatz 2 Satz 1 erste Alternative besitzt, d) seit zwei Jahren eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und die Aufenthaltserlaubnis nicht mit einer Nebenbestimmung nach § 8 Abs. 2 versehen oder die spätere Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nicht auf Grund einer Rechtsnorm ausgeschlossen ist; dies gilt nicht für eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative, e) eine Aufenthaltserlaubnis nach § 7 Absatz 1 Satz 3 oder nach den Abschnitten 3, 4, 5 oder 6 oder § 37 oder § 38 besitzt, die Ehe bei deren Erteilung bereits bestand und die Dauer seines Aufenthalts im Bundesgebiet voraussichtlich über ein Jahr betragen wird; dies gilt nicht für eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative, f) eine Aufenthaltserlaubnis nach § 38a besitzt und die eheliche Lebensgemeinschaft bereits in dem Mitgliedstaat der Europäischen Union bestand, in dem der Ausländer die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten innehat, oder g) eine Blaue Karte EU, eine ICT-Karte oder eine Mobiler-ICT-Karte besitzt.“ Für die zuständigen Behörden ist es schwer, die Einreise der Ehepartner von Zwangsverheirateten zu identifizieren und den Nachzug zu verhindern, um so die Betroffenen zu schützen. Bisher hat die Politik noch keine wirksame Gesetzesänderung angestrebt, um diesen Zustand zu verbessern.
Dagegen wurden in Nordrhein-Westfalen andere Maßnahmen durchgeführt, um gegen das Phänomen der Zwangsehe vorzugehen. Mit der Öffentlichkeitskampagne EXIT.NRW versuchte die Landesregierung bereits im Jahr 2021 gegen die Entwicklung anzugehen. Mittlerweile ist die Website der Kampagne jedoch nicht mehr erreichbar.3 Dies wirft die Frage auf, wie die Landesregierung in Zukunft gegen illegale Zwangsheiraten vorgehen will.
Wir fragen daher die Landesregierung,
- Wie viele Personen, die in NRW wohnhaft sind, sind in den Jahren 2018–2022 zwangs-oder frühverheiratet worden? (Bitte um Angabe des Zeitpunkts, des Alters und des Migrationshintergrunds, des Vornamens, des Orts der Eheschließung nach Land, Stadt und Standesamt, der Staatsbürgerschaft und eine Aufschlüsselung nach Jahren)
- Welche Maßnahmen will die Landesregierung ergreifen, um gegen die Zwangsverheiratung minderjähriger Deutscher im Ausland vorzugehen?
- Wurden in den vergangenen fünf Jahren Kinder und Jugendliche aufgrund einer Zwangs- oder Frühehe von nordrhein-westfälischen Jugendämtern in Obhut genommen? (Bitte aufschlüsseln nach Jahr sowie Alter und Geschlecht sowie Staatsbürgerschaft und Migrationshintergrund der in Obhut genommenen Person)
- Wie groß ist die Anzahl der Ausländer je kommunaler Ausländerbehörde, die 2022 eine Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen besaßen? (Wenn möglich inkl. einer Differenzierung zwischen einem Nachzug von Familienangehörigen zu Schutzberechtigten und dem Familiennachzug, der von (drittstaatsangehörigen) Ausländern zu Deutschen oder zu (ebenfalls drittstaatsangehörigen) Ausländern erfolgte)4
- Wie verteilen sich die in der Antwort zu Frage 4 genannten Personengruppen – differenziert nach Großeltern-, Eltern- und Kindesnachzug gemäß §§ 30, 32 und 36 AufenthG – auf die einzelnen Herkunftsländer?5
Enxhi Seli-Zacharias
Zacharias Schalley
Markus Wagner
3 https:// www .mhkbd.nrw/exit.nrw (Fehler 404).
4 In abgewandelter Form bereits in Landtags-Drucksache 16/15011 erfragt und seitens der Landesregierung beantwortet.
5 In abgewandelter Form bereits in Landtags-Drucksache 16/15011 erfragt und seitens der Landesregierung beantwortet.
Die Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration hat die Kleine Anfrage 2359 mit Schreiben vom 20. September 2023 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister des Innern beantwortet.
Vorbemerkung der Landesregierung
Vorab ist anzumerken, dass die für die EXIT-Kampagne gegen Zwangsheirat zuständige Abteilung „Gleichstellung“ nach der Landtagswahl 2022 in das Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen ressortiert und somit die Informationsseite „exit.nrw“ in die Homepage des Ministeriums für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen (chan-cen.nrw) integriert wurde. Dort stehen die Inhalte der Öffentlichkeit weiter zur Verfügung4.
- Wie viele Personen, die in NRW wohnhaft sind, sind in den Jahren 2018-2022 zwangs- oder frühverheiratet worden? (Bitte um Angabe des Zeitpunkts, des Alters und des Migrationshintergrunds, des Vornamens, des Orts der Eheschließung nach Land, Stadt und Standesamt, der Staatsbürgerschaft und eine Aufschlüsselung nach Jahren)
Datenquelle für die Beantwortung von Fragen zur Kriminalitätsentwicklung ist die Polizeiliche Kriminalstatistik. Sie wird nach bundeseinheitlich festgelegten Richtlinien erstellt. Die Erfassung erfolgt nach Abschluss aller kriminalpolizeilichen Ermittlungen und führt häufig zu einem zeitlichen Versatz zwischen Bekanntwerden der Straftat und der statistischen Erfassung. Die Polizeiliche Kriminalstatistik ist eine Jahresstatistik, die zu Jahresbeginn eines Folgejahres für das Vorjahr veröffentlicht wird.
Daten zu Personen, die in Nordrhein-Westfalen wohnhaft und zwangs- oder frühverheiratet worden sind, können aus der Polizeilichen Kriminalstatistik nicht automatisiert ausgewertet werden. Die Polizeiliche Kriminalstatistik bildet allerdings den Straftatbestand der Zwangsheirat (§ 237 StGB) ab.
Der nachfolgenden Tabelle können die Fälle nach § 237 StGB der Jahre 2018 bis 2022 entnommen werden.
Jahr | Fälle |
2018 | 22 |
2019 | 14 |
2020 | 26 |
2021 | 27 |
2022 | 26 |
- Welche Maßnahmen will die Landesregierung ergreifen, um gegen die Zwangsverheiratung minderjähriger Deutscher im Ausland vorzugehen?
Die Bekämpfung von Zwangsheirat ist seit vielen Jahren ein vorrangiges Ziel der Landesregierung.
Die vielfältigen Maßnahmen der Landesregierung für Mädchen und junge Frauen, die von Zwangsheirat bedroht oder betroffen sind, richten sich dabei an alle Mädchen und junge Frauen. Um Mädchen und junge Frauen, die von einer Zwangsverheiratung bedroht oder betroffen sind, unverzüglich unterstützen zu können, fördert das Land die Vorhaltung von Plätzen in Einrichtungen der Jugendhilfe. Diese Förderung stellt sicher, dass den betroffenen Mädchen und jungen Frauen sofort und ohne bürokratischen Aufwand ein anonymer Zufluchtsplatz, pädagogische Betreuung sowie bedarfsgerechte Hilfen zur Verfügung gestellt werden können.
Darüber hinaus fördert das Land Angebote und Maßnahmen in Mädchenhäusern und Mädchenberatungsstellen in Nordrhein-Westfalen. Mädchen und junge Frauen können sich an diese wenden, v.a. wenn sie sich in besonderen Lebenslagen befinden und / oder von Gewalt bedroht oder betroffen sind.
Ferner fördert die Landesregierung bereits seit 2007 die Fachberatungsstelle gegen Zwangsheirat des Mädchenhauses Bielefeld e.V. und seit Mitte 2011 das Projekt „Selbstbestimmte Zukunft – gegen Zwangsheirat und patriarchale Gewalt“ des agisra e.V. in Köln. Im Rahmen der Förderung führt die Fachberatungsstelle gegen Zwangsheirat im Mädchenhaus Bielefeld jedes Jahr vor den Sommerferien eine Informationskampagne durch und versendet an alle weiterführenden Schulen in Nordrhein-Westfalen Informationsmaterialien zur Thematik. Dadurch sollen Lehrkräfte für die Gefahren der „Ferien-/ Heiratsverschleppung“ sensibilisiert werden.
Die Förderung dieser qualifizierten, landesweiten Beratungs-, Öffentlichkeits-, Präventions-und Vernetzungsarbeit ist auch weiterhin beabsichtigt.
- Wurden in den vergangenen fünf Jahren Kinder und Jugendliche aufgrund einer Zwangs- oder Frühehe von nordrhein-westfälischen Jugendämtern in Obhut genommen? (Bitte aufschlüsseln nach Jahr sowie Alter und Geschlecht sowie Staatsbürgerschaft und Migrationshintergrund der in Obhut genommenen Person)
Das Merkmal „Zwangs- oder Frühehe“ wird im Rahmen der Statistik für Inobhutnahmen nach SGB VIII nicht als Anlass bzw. Veranlassung der Maßnahme erfasst, so dass dem Ministerium keine Angaben hierzu vorliegen.
- Wie groß ist die Anzahl der Ausländer je kommunaler Ausländerbehörde, die 2022 eine Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen besaßen? (Wenn möglich inkl. einer Differenzierung zwischen einem Nachzug von Familienangehörigen zu Schutzberechtigten und dem Familiennachzug, der von (drittstaatsangehörigen) Ausländern zu Deutschen oder zu (ebenfalls drittstaatsangehörigen) Ausländern erfolgte)
Zur Beantwortung der Frage wird auf die nachfolgende Tabelle (Quelle: AZR-Statistik, Stichtag 31.12.2022) verwiesen. Die dargestellten Zahlen umfassen die Aufenthaltserlaubnisse aus familiären Gründen nach den §§ 28, 30, 32, 33, 36 und 36a AufenthG.
Ausländerbehörde | Aufenthaltserlaubnisse aus familiären
Gründen |
Aachen, StädteRegion | 7630 |
Arnsberg, STV | 1027 |
Bergheim, STV | 914 |
Bielefeld, STV | 5165 |
Bocholt, STV | 742 |
Bochum, STV | 5269 |
Bonn, STV | 6986 |
Borken, KRV | 1707 |
Bottrop, STV | 1410 |
Castrop-Rauxel, STV | 679 |
Coesfeld, KRV | 1109 |
Detmold, STV | 963 |
Dinslaken, STV | 730 |
Dormagen, STV | 602 |
Dorsten, STV | 579 |
Dortmund, STV | 8938 |
Duisburg, STV | 7075 |
Düren, KRV | 3339 |
Düsseldorf, STV | 13514 |
Ennepe-Ruhr-Kreis, KRV | 1570 |
Essen, STV | 11619 |
Euskirchen, KRV | 1287 |
Gelsenkirchen, STV | 5312 |
Gladbeck, STV | 1155 |
Gütersloh, KRV | 1707 |
Gütersloh, STV | 1163 |
Hagen, STV | 3154 |
Hamm, STV | 2524 |
Heinsberg, KRV | 1925 |
Herford, KRV | 1224 |
Herford, STV | 1018 |
Herne, STV | 2596 |
Herten, STV | 938 |
Hochsauerlandkreis, KRV | 1306 |
Höxter, KRV | 962 |
Iserlohn, STV | 1374 |
Kerpen, STV | 878 |
Kleve, KRV | 1567 |
Köln, STV | 13842 |
Krefeld, STV | 1675 |
Leverkusen, STV | 1963 |
Lippe, KRV | 2262 |
Lippstadt, STV | 811 |
Lünen, STV | 729 |
Märkischer Kreis, KRV | 2676 |
Marl, STV | 1068 |
Mettmann, KRV | 4292 |
Minden, STV | 1122 |
Minden-Lübbecke, KRV | 1657 |
Moers, STV | 1387 |
Mönchengladbach, STV | 4697 |
Mülheim a.d. Ruhr, STV | 3409 |
Münster, STV | 2892 |
Neuss, STV | 2712 |
Oberbergischer Kreis, KRV | 1968 |
Oberhausen, STV | 4113 |
Olpe, KRV | 1151 |
Paderborn, KRV | 760 |
Paderborn, STV | 1845 |
Recklinghausen, KRV | 1010 |
Recklinghausen, STV | 1554 |
Remscheid, STV | 1402 |
Rheine, STV | 957 |
Rhein-Erft-Kreis, KRV | 3052 |
Rheinisch Berg. Kreis, KRV | 2109 |
Rhein-Kreis Neuss, KRV | 2280 |
Rhein-Sieg Kreis, KRV | 3382 |
Siegen, STV | 1827 |
Siegen-Wittgenstein, KRV | 1307 |
Soest, KRV | 1463 |
Solingen, STV | 1630 |
Steinfurt, KRV | 3011 |
Troisdorf, STV | 972 |
Unna, KRV | 2489 |
Viersen, KRV | 1272 |
Viersen, STV | 846 |
Warendorf, KRV | 1410 |
Wesel, KRV | 1534 |
Wesel, STV | 600 |
Witten, STV | 995 |
Wuppertal, STV | 8358 |
- Wie verteilten sich die in der Antwort zu Frage 4 genannten Personengruppen – differenziert nach Großeltern-, Eltern- und Kindesnachzug gemäß §§ 30, 32 und 36 AufenthG – auf die einzelnen Herkunftsländer?
Zur Beantwortung der Frage wird auf die in Anlage 1 dargestellte Tabelle (Quelle: AZR-Statis-tik, Stichtag 31.12.2022) verwiesen. Einen „Großelternnachzug“, wie in der vorstehenden Frage formuliert, kennt das Aufenthaltsgesetz nicht. Diese Personengruppe unterliegt – soweit die gesetzlichen Bestimmungen erfüllt sind – dem Anwendungsbereich von § 36 Abs. 2 Auf-enthG.