Aktuelle Stundeder AfD-Fraktion vom 22.06.2020
Superspreader Schlachthof – Wieso reagiert die Landesregierung nicht?
Wegen eines Corona-Massenausbruchs in einer Fleischfabrik steht das Unternehmen Tönnies aus Rheda-Wiedenbrück im Kreis Gütersloh in der Kritik. In den vergangenen Monaten sorgten bereits mehrere Coronavirus-Ausbrüche unter Mitarbeitern von Fleischbetrieben für Aufsehen. Tönnies ist der führende Schweineschlachtbetrieb in Deutschland. Mit rund 16,7 Millionen Schweine-Schlachtungen im Jahre 2019 hat das Unternehmen einen Marktanteil von 30,3 Prozent.1
Der Coronavirus-Ausbruch bei Tönnies wurde am Mittwoch bekannt, mittlerweile sind 1029 der rund 2500 Mitarbeiter positiv auf das Virus getestet worden. Die Produktion wurde vorübergehend eingestellt, und der Kreis Gütersloh hat als Reaktion Kitas und Schulen bis zu den Sommerferien geschlossen.
Obwohl Kinder im Kita- und Grundschulalter nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft keine Treiber der Corona-Pandemie sind, hat der zuständige Landrat seit vergangenem Donnerstag erneut sämtliche Kitas und Schulen im Kreis Gütersloh vorübergehend schließen lassen. So bezahlen nun auch dieses Mal wieder die Kleinsten unserer Gesellschaft den leidvollen Preis – und zwar nur, weil die Firmenleitung aufgrund mangelnden Risikomanagements die Infektionszahlen in die Höhe schießen ließ.
Während also Baumärkte, Einrichtungshäuser, Friseure und sogar Freizeitparks etc. weiterhin geöffnet sein dürfen, werden die Kindertagesstätten und Schulen auf die erweiterte Notbetreuung heruntergefahren. An dieser Stelle wird wieder deutlich, dass wirtschaftliche Interessen offenbar weit vor die Bedürfnisse unserer Kinder rangieren.
Nachdem der Regelbetrieb in den Kitas und Grundschulen gerade erst angelaufen war und die Kinder sich bestens an die ihnen auferlegten Maßnahmen gewöhnt hatten, werden die Kleinsten im Kreis Gütersloh nun abrupt ein weiteres Mal von ihren Kita-Freunden bzw. Schulkameraden isoliert. Ihre schulischen Aufgaben werden die Gütersloher Grundschulkinder nun bis zu den Ferien wieder zuhause bearbeiten müssen. Wie sie mit diesem harten Schnitt umgehen können, von einem Tag auf den anderen wieder aus dem Regelbetrieb herausgerissen zu werden und erneut zuhause bleiben zu müssen, wurde bei dieser Entscheidung offenbar völlig außer Acht gelassen – denn die vermeintlich alternativlose „Notbremse“ wurde direkt gezogen.
Auch ihre Eltern stehen nun erneut vor den schwerwiegenden Herausforderungen, die sie zuvor erst mit Mühe und Not hinter sich gebracht haben. Ihnen wird ein weiterer Spagat abverlangt, Beruf, Kinderbetreuung und Haushalt „unter einen Hut“ bringen zu müssen und all den alltäglichen Aufgaben gerecht zu werden.
Die Familien im Kreis Gütersloh stehen nun erneut vor einem Kraftakt, der bei Berücksichtigung aller bisheriger wissenschaftlicher Erkenntnisse nicht notwendig sein dürfte.
Als eine Ursache für die rasche Ausbreitung des Virus werden die Unterkünfte vieler Mitarbeiter genannt. Die Zustände in diesen Sammelunterkünften werden seit langem in Medienberichten immer wieder bemängelt, nicht zuletzt nach den Corona-Ausbrüchen im Mai 2020 in mehreren Fleischereibetrieben von Westfleisch. Spätestens seit diesem Zeitpunkt waren der Landesregierung die Faktoren bekannt, welche zur Begünstigung der Übertragung des Coronavirus beitragen. Rückblickend wäre zu erwarten gewesen, dass die Landesregierung, insbesondere vor dem Hintergrund, dass Nordrhein-Westfalen mit seinen 498 Schlachtbetrieben ein regionaler Schwerpunkt der Fleischindustrie in Deutschland und Europa ist, Maßnahmen einleitet, welche sich eben mit diesen Risikofaktoren und mit der Eindämmung eines womöglich weiteren Ausbruchs beschäftigt.
Der Stopp der Schlachtung bei Europas größten Schlachtbetrieb hat massive Auswirkungen auf die gesamte vor- und nachgelagerte Wertschöpfungskette. So äußerte sich der Deutsche Bauernverband über den Fall Tönnies, dass die Fleischwirtschaft das Geschehen „schnell in Ordnung bringen soll“.2 Aus Größe und Systemrelevanz erwachse eine Verantwortung.
Branchenexperten schätzen den Marktanteil des Schlachtbetriebs Tönnies auf ca. 30 Prozent.3 Die Werksschließung führt zu einem Rückstau bei den Viehhaltern, weil die Schlachttiere auf Abruf ohne Zwischenhaltung geliefert werden. Die Schlachttiere werden nun über ihren ursprünglichen Lieferzeitpunkt hinaus gefüttert und drohen zu verfetten. Gleichzeitig drängt die Nachzucht in die Ställe. Die Kosten durch Mast und Haltung steigen, die Gewinne sinken durch das aktuelle Überangebot. Ob kleinere und regionale Schlachtbetriebe die Schlachttiere auffangen können, ist nicht bekannt.
Es ist von dringender Notwendigkeit, die wirtschaftlichen Folgen des jüngsten Skandals bei Tönnies zu analysieren. Des Weiteren muss die Landesregierung darlegen, wie sie die Lage bei den erkrankten Arbeitern begleitet und beobachtet. Möglicherweise gesunden die infizierten Menschen ohne Probleme. Das wäre ein Hinweis, dass dieses Virus weniger gefährlich ist als angenommen. Außerdem besteht dringender Klärungsbedarf, inwiefern der Ausfall dieses bedeutenden Herstellers von Fleischwaren zu einer Versorgungsknappheit bei der Bevölkerung führen könnte. Welche Maßnahmen ergreift die Landesregierung, um die Versorgungssicherheit der Bevölkerung mit Fleisch sicherzustellen?
Zudem hat der Fall im Kreis Gütersloh gezeigt, dass es, unabhängig davon, ob verschuldet oder unverschuldet, jederzeit zu einem neuen Infektionsgeschehen kommen kann. Werden Kinderbetreuung und Bildung künftig lediglich ein abrufbares Gut, das in Krisenzeiten verzichtbar erscheint?
Der Landtag sollte die Geschehnisse und Berichte der letzten Woche zum wiederholten Ausbruch des Coronavirus zum Anlass nehmen, über die Problematik, die gesellschaftliche Haltung sowie über möglicherweise notwendig zu ergreifende Maßnahmen im Rahmen einer Aktuellen Stunde zu diskutieren.
Dr. Martin Vincentz
Andreas Keith
und Fraktion
1 https://de.statista.com/infografik/22034/marktanteil-der-schweine-schlachtbetriebe-in-deutschland/ Datum des Originals: 22.06.2020/Ausgegeben: 22.06.2020
2 https://www.agrarheute.com/politik/dbv-wertschaetzung-lebensmittel-abbrechen-569818