Kleine Anfrage 4601
des Abgeordneten Dr. Martin Vincentz AfD
Tickende Zeitbombe: Multiresistente Erreger könnten Millionen Tote fordern – Wie reagiert die Landesregierung auf die schleichende Gesundheitsgefahr?
Vorbemerkung der Kleinen Anfrage
Multiresistente Erreger (MRE) sind Bakterien, die gegen mehrere Antibiotikaklassen resistent geworden sind, was sie schwer oder gar nicht mehr behandelbar macht. Zu den bekanntesten MRE gehören Methicillin-resistente Staphylococcus aureus (MRSA), Vancomycin-resistente Enterokokken (VRE) sowie multiresistente gramnegative Bakterien (MRGN), darunter Entero-bacteriaceae oder Pseudomonas aeruginosa.1
Ein wesentlicher Faktor ist der übermäßige und unsachgemäße Einsatz von Antibiotika, sowohl in der Humanmedizin als auch in der Tierhaltung. In Krankenhäusern spielen resistente Erreger eine besonders große Rolle, da geschwächte Patienten anfälliger für Infektionen sind, und die Behandlungsmöglichkeiten bei resistenten Keimen stark eingeschränkt sind. Hinzu kommt, dass die Entwicklung neuer Antibiotika in den letzten Jahrzehnten stagniert, während sich Resistenzen immer weiterverbreiten.2
Antibiotikaresistenzen stellen eine zunehmende globale Gesundheitskrise dar, die auch NRW betrifft. Studien aus den USA zeigen, dass weltweit jährlich mehr als eine Million Menschen an resistenten Keimen sterben, und bis 2050 könnten es bis zu 39 Millionen sein.3 In Deutschland werden jährlich bis zu 9.700 Todesfälle aufgrund von Antibiotikaresistenzen geschätzt. Im ersten Halbjahr 2023 gab es in NRW einen Anstieg der Verordnungen um 32 Prozent im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres.4
Der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales hat die Kleine Anfrage 4601 mit Schreiben vom 19. November 2024 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit der Ministerin für Landwirtschaft und Verbraucherschutz und der Ministerin für Kultur und Wissenschaft beantwortet.
- Wie viele Todesfälle aufgrund antibiotikaresistenter Keime wurden in den letzten fünf Jahren in NRW registriert? (Bitte Anzahl nach Jahr aufschlüsseln)
Mit Datenstand vom 11. Oktober 2024 liegen dem Landeszentrum Gesundheit Nordrhein-Westfalen (LZG.NRW) gemäß § 7 Absatz 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) seit dem Jahr 2019 200 gemeldete Todesfälle aus den Übermittlungskategorien Methicillin-resistente Staphy-lococcus aureus (MRSA), Enterobacterales und Acinetobacter mit erfüllter Referenzdefinition und Todesursache an der gemeldeten Krankheit vor.
Für weitere antibiotikaresistente bakterielle Krankheitserreger besteht keine Meldepflicht gemäß § 7 Absatz 1 IfSG, sodass hierzu keine Meldedaten vorliegen.
- Welche Maßnahmen ergreift die Landesregierung, um den Einsatz von Antibiotika in der Human- und Tiermedizin in NRW zu regulieren und Resistenzen zu verringern?
Für die Humanmedizin hat das Land Nordrhein-Westfalen bereits 2019 einen Leitfaden zur rationalen Antiinfektiva-Therapie im stationären Bereich veröffentlicht. Der Leitfaden bietet klinisch-tätigen Ärztinnen und Ärzten Therapieempfehlungen für eine empirische Initial-Therapie basierend auf den Empfehlungen der jeweiligen Fachgesellschaften und auf aktuellen Leitlinien. Darüber hinaus kann er Kliniken als Grundlage dienen, eigene hausspezifische Leitfäden zu entwickeln. Mit der Herausgabe des Leitfadens leistet Nordrhein-Westfalen einen wichtigen Beitrag zum rationalen Antibiotikaeinsatz in Krankenhäusern im Spannungsfeld zwischen Therapieoptimierung und Resistenzminimierung.
Für die nachhaltige Sicherung eines rationalen Antibiotikaeinsatzes im Krankenhaus ist die Etablierung des Standards „Antibiotic Stewardship“ (ABS) von entscheidender Bedeutung. Die Leiterinnen und Leiter haben sicherzustellen, dass die nach § 23 Absatz 4a IfSG festgelegten Daten zu Art und Umfang des Antibiotika-Verbrauchs fortlaufend in zusammengefasster Form aufgezeichnet, unter Berücksichtigung der lokalen Resistenzsituation bewertet und sachgerechte Schlussfolgerungen hinsichtlich des Einsatzes von Antibiotika gezogen werden und dass die erforderlichen Anpassungen des Antibiotikaeinsatzes dem Personal mitgeteilt und umgesetzt werden.
Auch wenn ABS hier nicht explizit genannt wird, beschreibt die Festlegung im § 23 Absatz 4 IfSG eine der Kernaufgaben eines ABS-Teams. Die Gesundheitsämter in Nordrhein-Westfalen können demnach im Rahmen der infektionshygienischen Überwachung den rationalen Antibi-otikaeinsatz sowie die Umsetzung von ABS-Programmen im Krankenhaus überprüfen. Das LZG.NRW hat das Thema ABS im Rahmen der Schwerpunktüberwachung für Gesundheitsämter aufgearbeitet und stellt unter anderem zur Unterstützung eine Checkliste für die Begehung durch Gesundheitsämter zur Verfügung.
Perspektivisch soll in den Krankenhäusern in Nordrhein-Westfalen zusätzlich die Implementierung von ABS gestärkt werden. Dafür ist vorgesehen, in Kooperation mit der Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen zunächst den Ist-Stand zur Umsetzung von ABS in Krankenhäusern zu ermitteln.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Sensibilisierung der Bevölkerung für einen verantwortungsvollen Umgang mit Antibiotika. Neben der ganzjährigen Information über das Internet hat das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) gemeinsam mit den Akteurinnen und Akteuren des Gesundheitswesens bereits in 2020 eine Informationskampagne gestartet. In 2020 und 2022 fanden in diesem Zusammenhang gemeinsame Aktionswochen statt, in welchen beispielsweise mit Informationsmaterialien in Arztpraxen, Apotheken, Krankenhäusern und bei den Krankenkassen über die richtige Anwendung von Antibiotika informiert wurde. Die Materialien stehen nach wie vor zur Nutzung bereit (https://www.mags.nrw/antibiotika).
Die Landesregierung ergreift zudem verschiedene Maßnahmen, um den Antibiotikaeinsatz im veterinärmedizinischen Bereich, also bei Tieren, auf ein notwendiges Minimum zu reduzieren und Resistenzen vorzubeugen:
Im Rahmen der risikobasierten Überwachung landwirtschaftlicher Nutztierhaltungen und tierärztlicher Hausapotheken in Nordrhein-Westfalen überprüfen die Kreise und kreisfreien Städte routinemäßig den sorgsamen und rechtskonformen Einsatz von Tierarzneimitteln, welche auch Antibiotika einschließen. Bereits seit dem Jahr 2014 sind Halterinnen und Halter bestimmter lebensmittelliefernder Tierarten gesetzlich verpflichtet, die Anwendung von Antibiotika in dem Herkunftssicherungs- und Informationssystem für Tiere (HIT-Datenbank) zu dokumentieren. Zudem sind im halbjährlichen Vergleich der für den Bestand ermittelten Therapiehäufigkeit mit den bundesweit ermittelten Kennzahlen entsprechende Maßnahmen in Abstimmung mit der bestandsbetreuenden Tierärztin bzw. dem Tierarzt zu treffen, die geeignet sind, den Verbrauch von Antibiotika im Bestand zu reduzieren. Die betriebsbezogenen Maßnahmenpläne sind den zuständigen Behörden zuzuleiten, die diese Informationen für gezielte risikoorientierte Betriebskontrollen nutzen.
- Um wie viel Prozent veränderten sich die Antibiotika-Verordnungen in NRW im zweiten Halbjahr 2023 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum?
Die humanmedizinischen Antibiotikaverordnungen – bezogen auf die verordneten Tagesdosen – sind nach Auskunft der Kassenärztlichen Vereinigungen in beiden Landesteilen im Vergleich zwischen dem zweiten Halbjahr 2022 und dem zweiten Halbjahr 2023 gesunken: Im Landesteil Nordrhein um 2,73 % und im Landesteil Westfalen-Lippe um 0,09 %.
Die Landesregierung kann die begehrte Auskunft für Antibiotika-Verordnungen bei lebensmittelliefernden Tieren nicht erteilen, da die Auswertung und Weitergabe der angeforderten Daten gemäß § 59 des Tierarzneimittelgesetzes (TAMG) nicht zulässig ist. Daten über die Antibio-tikaverwendung bei anderen lebensmittelliefernden Tieren als denjenigen, die von § 56 TAMG erfasst sind, sowie bei sonstigen Tieren wie insbesondere Heimtieren, werden noch nicht systematisch erfasst.
Die von Herstellerinnen und Herstellern sowie Inhaberinnen und Inhabern einer Großhandels-vertriebserlaubnis gemäß § 2 Absatz 2 der Verordnung über das datenbankgestützte Informationssystem über Arzneimittel des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM-Arzneimitteldatenverordnung) übermittelten Daten über die jährlich abgegebenen Gesamtmengen an Antibiotika – aufgeschlüsselt nach den ersten beiden Ziffern der Postleitzahl der Anschrift des jeweiligen Tierarztes bzw. der jeweiligen Tierärztin – werden regelmäßig auf der Internetseite des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit veröffentlicht (www.bvl.bund.de).
- Inwieweit unterstützt die Landesregierung Forschungseinrichtungen in NRW bei der Entwicklung neuer Antibiotika oder alternativer Therapien gegen resistente Keime?
Das Land unterstützt grundlagen- und anwendungsorientierte Forschung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen in Nordrhein-Westfalen im Rahmen der grundständigen Finanzierung.
Hierdurch werden u. a. vielfältige Forschungsarbeiten an den Universitäten und Universitätskliniken ermöglicht – auch mit Blick auf Multiresistente Erreger.
Zudem ist Nordrhein-Westfalen Sitz des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung (DZIF), einem der von Bund und Ländern gemeinsam geförderten Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung (DZG).
Der Zusammenschluss von insgesamt 35 Forschungseinrichtungen an sieben bundesweit verteilten Standorten zielt auf die Beschleunigung des Transfers von Forschungsergebnissen von der Grundlagenforschung über die klinische Forschung hin bis zur patientenorientierten Anwendung.
Im Rahmen des Schwerpunktes „Prävention und Therapie von Infektionen mit multiresistenten Erregern“ befassen sich die Forschenden des DZIF mit neuen diagnostischen Tests, die eine frühe und rationale Antibiotikatherapie ermöglichen, mit IT- und KI-basierten Prognosemodel-len zur Vorhersage von Infektionsrisiken bzw. auslösenden Erregern sowie mit der Integration neuartiger Therapieansätze in die klinische Forschung. Nordrhein-Westfalen ist am DZIF mit dem Standort Köln/Bonn beteiligt, wo derzeit bspw. an der Entwicklung eines Vakzins gegen den Methicillin-resistenten Krankenhauskeim Staphylococcus aureus (MRSA) geforscht wird.
Durch die grundständig finanzierte Forschung an Universitäten und Universitätskliniken sowie die genannte institutionelle Förderung, aber auch die bundesweite und internationale Vernetzung der beteiligten Forschungseinrichtungen, können die Ergebnisse der Forschungsarbeiten direkt in neue Therapieansätze fließen und so Patientinnen und Patienten in Nordrhein-Westfalen und weit darüber hinaus zugutekommen.
1 https://www.lzg.nrw.de/inf_schutz/mre-nrw/index.html.
2 https://www.rki.de/DE/Content/Service/Presse/Pressemitteilungen/2022/06_2022.html;
4 https://www.mags.nrw/minister-laumann-antibiotika-nur-genau-nach-verschreibung-nehmen.