Kleine Anfrage 2389
der Abgeordneten Enxhi Seli-Zacharias AfD
Tumult in der Notunterkunft (NU) Selm – Landrat fordert Schließung der Zeltstadt – SPD sieht lediglich „Kommunikationsstörungen“
In der Notunterkunft (NU) Selm ist es am 8. August 2023 erneut zu Ausschreitungen gekommen. Die NU war mit Stand 31.03.2023 zu 98 % ausgelastet (736 von max. 750 Unterbringungsplätzen).
Aus einem lokalen Internetportal geht hervor, dass die Bewohner die Mitarbeiter mit Steinen beworfen haben, die daraufhin zum Eigenschutz die Flucht ergriffen haben.1 Der Vorfall löste einen erneuten Großeinsatz der Polizei aus. Etwa 50–70 Personen sollen beteiligt gewesen sein. Im Zuge der polizeilichen Maßnahmen wurden 3 Personen kurzfristig festgenommen. Nach Aussage der Kreispolizeibehörde Unna gab es seit Februar 2023 an der NU Selm 30 Einsatzanlässe. Dabei ging es u. a. um Eigentums- und Körperverletzungsdelikte, Sachbeschädigungen, Beleidigungen und Bedrohungen.2 Auslöser der aktuellen Tumulte war laut WAZ offenbar die Tatsache, dass „den zumeist arabischstämmigen Männern verboten worden war, einen Elektrokocher unter brennbaren Zeltplanen zu benutzen“.3
Im Nachgang der Ereignisse forderte der Landrat, Mario Löhr, jetzt überraschend eine Aufgabe der Zeltstadt noch in diesem Jahr.4 Dies habe er auch gegenüber der Bezirksregierung Arnsberg deutlich gemacht. Begründet wird die Forderung mit einer Verunsicherung der Bevölkerung und der Sicherheit von Mitarbeitern, u.a. der Zentralen Ausländerbehörde. Adressiert an die zuständige Ministerin führte der Landrat weiter aus: „Ich habe die klare Erwartungshaltung, dass Josefine Paul als zuständige Ministerin diese Form der Unterbringung schnellstmöglich beendet.“5
Dabei war es laut WAZ ausgerechnet Landrat Löhr, der „noch zu Jahresbeginn der Landesregierung schriftlich angeboten hatte, im Kreis Unna 3000 Flüchtlinge aufzunehmen. Wenn das Land die Kosten trage, werde man die Menschen auf die Städte verteilen und versuchen, sie zu integrieren. Die Grundstimmung der Bevölkerung schien positiv, vor allem gegenüber Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine war große Hilfsbereitschaft der Bürger zu spüren“.
Statt 3000 Frauen und Kinder aus der Ukraine fanden sich in der NU Selm 750 Männer aus „unterschiedlichsten Kulturkreisen“ ein, weshalb es laut Landtagsvizepräsident, Rainer Schmeltzer, seither Beschwerden in Richtung Düsseldorf hagele. Die Vorfälle in Selm reihten sich ein in „eine Serie von Kommunikationsstörungen zwischen Anwohnern von großen Flüchtlingsunterkünften und der schwarz-grünen Landesregierung“. Auch SPD-Landtagsfraktionsvize Lisa Kapteinat moniert „Schwierigkeiten bei der Kommunikation und fehlende Beteiligung bzw. Berücksichtigung kommunaler Entscheidungen“.6
Den Anwohnern von großen Flüchtlingsunterkünften „Kommunikationsstörungen“ oder eine „Verunsicherung“ zuzuschreiben, wenn über ihre Köpfe hinweg für sie sehr schwerwiegende Veränderungen im direkten Lebensumfeld beschlossen werden, wirkt skurril und verstörend und zeugt von einer gewissen Entfremdung vom Souverän.7
Insgesamt verfügen die Notunterkünfte in NRW über eine aktive Kapazität von 7.528 Plätzen und eine Belegung von 4.468 Personen – oder 59 % (Stand 31.03.2023). Da auch die Zentralen Unterbringungseinrichtungen (ZUE) ausgelastet sind, ließe sich die Forderung des Landrats nur durch die Inbetriebnahme von landesweit mind. 10 weiteren ZUE mit einer Kapazität von jeweils ca. 450 Plätzen kompensieren. Hierzu fehlen nicht nur die Immobilien, dieses Vorgehen ist dem Bürger zudem nicht länger vermittelbar, da u. a. die Zugangszahlen momentan dramatisch ansteigen.
Der ungebremste Zustrom weiterer Migranten bzw. Asylbewerber, bedingt durch die bedingungslose Hinnahme einer stark ansteigenden Anzahl illegaler Einreisen, ist aus integrationspolitischer, sicherheitspolitischer und finanzieller Sicht für die Kommunen nicht länger hinnehmbar. Wiederholte Hilferufe aus den Kommunen oder auch direkt von betroffenen Bürgern werden bisher ignoriert, was dem sozialen Frieden auf Dauer nicht zuträglich ist.
Ich frage daher die Landesregierung:
- Wie viele Einsatzanlässe der Polizei in der NU Selm gab es seit der Errichtung der Zeltstadt? (Bitte differenziert nach Monat und Anzahl listen)
- Welche Straftaten wurden in diesem Zusammenhang bisher festgestellt? (Bitte differenziert nach Straftatbestand und Anzahl listen)
- Wie viele dieser Straftaten durch Bewohner der NU zum Nachteil der Mitarbeiter oder der Anwohner der NU wurden bisher festgestellt? (Bitte differenziert nach Straftatbestand und Anzahl listen)
- Wie reagiert die zuständige Ministerin, Josefine Paul, auf die Forderungen des Landrats nach einer Schließung der NU Selm bis zum Jahresende bzw. der NU als Form der Unterbringung allgemein?
- Wann gedenkt die zuständige Ministerin, Josefine Paul, auf wiederholte Hilferufe aus den Kommunen einzugehen, wonach die Unterbringungskapazitäten erschöpft sind?
Enxhi Seli-Zacharias
1 Vgl. https:// ausblick -am-hellweg.de/2023/08/09/aufruhr-in-zeltstadt-selm-bork-bewohner-werfen-mit-steinen-mitarbeiter-fliehen-aus-angst/
2 Ebd.
4 Vgl. https:// ausblick -am-hellweg.de/2023/08/09/nach-sicherheitsrelevantem-vorfall-landrat-fordert-schliessung-der-zeltstadt-selm/
5 Ebd.
7 Vgl. Art. 20 GG
Die Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration hat die Kleine Anfrage 2389 mit Schreiben vom 25. Oktober 2023 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister des Innern beantwortet.
- Wie viele Einsatzanlässe der Polizei in der NU Selm gab es seit der Errichtung der Zeltstadt? (Bitte differenziert nach Monat und Anzahl listen)
In der Zeit von September 2015 bis Juli 2023 sind 117 außenveranlasste Einsätze im Einsatzleitsystem der Polizei Nordrhein-Westfalen für die Anschrift der NU Selm verzeichnet.
Die postalische Anschrift der Unterkunft ist identisch mit der Anschrift einer Liegenschaft der Polizei Nordrhein-Westfalen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Einsatzanlässe mit der Anschrift auch an der Liegenschaft der Polizei Nordrhein-Westfalen stattgefunden haben. Eine Differenzierung wäre ggfs. nur durch eine händische Einzelauswertung möglich. Diese ist innerhalb der gesetzten Frist und mit einem vertretbaren Verwaltungsaufwand nicht möglich.
- Welche Straftaten wurden in diesem Zusammenhang bisher festgestellt? (Bitte differenziert nach Straftatbestand und Anzahl listen)
Datenquelle für die Beantwortung von Fragen zur Kriminalitätsentwicklung ist die Polizeiliche Kriminalstatistik. Sie wird nach bundeseinheitlich festgelegten Richtlinien erstellt. Die Erfassung erfolgt nach Abschluss aller kriminalpolizeilichen Ermittlungen und führt häufig zu einem zeitlichen Versatz zwischen Bekanntwerden der Straftat und der statistischen Erfassung. In der Polizeilichen Kriminalstatistik NRW wurde für die Unterkunft die mit der Anschrift Liegenschaft der Polizei Nordrhein-Westfalen identische postalische Adresse ausgewertet. Eine Differenzierung zwischen der Unterkunft und einer Liegenschaft der Polizei Nordrhein-Westfalen ist nicht möglich.
Vom 01.01.2015 bis zum 31.12.2022 wurden für diese Adresse insgesamt 96 Straftatbestände in der Polizeilichen Kriminalstatistik NRW erfasst.
Eine Auflistung der einzelnen Tatbestände bitte ich der Anlage zu entnehmen.
- Wie viele dieser Straftaten durch Bewohner der NU zum Nachteil der Mitarbeiter oder der Anwohner der NU wurden bisher festgestellt? (Bitte differenziert nach Straftatbestand und Anzahl listen)
Zur Beantwortung der Frage müssten alle Sachverhalte einer lesenden Bewertung unterzogen werden, da eine automatisierte Auswertung nicht möglich ist. Dies ist innerhalb der für die Beantwortung der Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit mit einem vertretbaren Verwaltungsaufwand nicht leistbar.
- Wie reagiert die zuständige Ministerin, Josefine Paul, auf die Forderungen des Landrats nach einer Schließung der NU Selm zum Jahresende bzw. der NU als Form der Unterbringung allgemein?
Die NU Selm ist mit Blick auf die weiterhin hohen und steigenden Zugänge Geflüchteter ein wichtiger Baustein im Landesunterbringungssystem. Der Forderung nach einer Schließung der Einrichtung oder auch einer Reduzierung der Unterbringungskapazität kann daher nicht nachgekommen werden.
Aus Sicht der Landesregierung ist eine Unterbringung von Geflüchteten in Notunterkünften, insb. in Leichtbauhallen, nicht ideal, aber zurzeit eine erforderliche Maßnahme, um den hohen Zustrom von Geflüchteten unterbringen und versorgen zu können.
- Wann gedenkt die zuständige Ministerin, Josefine Paul, auf wiederholte Hilferuf aus den Kommunen einzugehen, wonach die Unterbringungskapazitäten ausgeschöpft sind?
Wie auch im Sechs-Punkte-Plan zur Stabilisierung des Landesaufnahmesystems dargestellt (https://www.mkjfgfi.nrw/sechs-punkte-plan-zur-stabilisierung-des-landesaufnahmesystems), werden die Bezirksregierungen bei der Akquise von Flächen und Gebäuden zum Ausbau der Landesunterbringungskapazitäten stärker unterstützt.
So soll beim umfangreichen und komplexen Prozess der Schaffung und des Ausbaus von Landeseinrichtungen der direkte Dialog mit den Kommunen zur Akquise von Flächen und Liegenschaften verstärkt werden. Ab sofort werden neue potenzielle Flächen und Gebäude stärker im Ministerium strategisch bewertet und die Arbeit der Bezirksregierungen koordiniert.
Die Landesregierung und die Kommunalen Spitzenverbände haben in ihrer gemeinsamen Vereinbarung zur Unterbringung und Versorgung geflüchteter Menschen in Nordrhein-Westfalen vom 29. September 2023 zum Ausdruck gebracht, dass Bund, Land und die Kommunen in einer Verantwortungsgemeinschaft stehen, innerhalb derer der Bund eine besondere politische Verantwortung auch für die Finanzierung der Unterbringung und Versorgung der zu uns kommenden Menschen übernehmen muss. Land und Kommunen fordern, dass der Bund ab dem Jahr 2024 ein atmendes und auskömmliches Finanzierungssystem für die Unterbringung, Versorgung und Integration Geflüchteter einrichtet. Das Land kompensiert fehlende Finanzierungszusagen des Bundes und stellt den massiv belasteten Kommunen zusätzlich zu den bisherigen Unterstützungen weitere 808 Mio. Euro zur Aufnahme, Unterbringung und Versorgung der geflüchteten zur Verfügung.