Kleine Anfrage 1529
der Abgeordneten Markus Wagner und Christian Loose vom 15.03.2023
Weiß Hendrik Wüst besser über die Gründe für die letzte Jahrhundertflut Bescheid als Klimaexperten?
„Wir verstromen gerade mehr Kohle, als wir ursprünglich gewollt haben, emittieren mehr CO2, als wir gewollt haben.“1
Dies offenbarte der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) vor der Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland, die am Montag, den 16. Januar 2023, stattfand. Als „Entschuldigung“ für diesen Umstand schob Wüst hinterher, dass die in den früheren Jahren gebaute „Brücke aus russischem Gas“, die in die Energiewende führen sollte, in der Realität allerdings nicht getragen habe.2 Daher sei „das gerade so unglaublich schwer“ und niemand habe es sich leicht gemacht, momentan mehr zu emittieren sowie den um acht Jahre auf 2030 vorgezogenen Ausstieg aus der Braunkohleverstromung zu beschließen.3 Darüber hinaus gab er zu, dass dies „eine enorme Anstrengung“ sei und man sehen könne, „wie schwer uns das fällt, zu reduzieren, einzusparen, zu verzichten“.4
Gleichzeitig nutzte Hendrik Wüst die Synode als Bühne, um für grüne Energiepolitik zu werben und die Anwesenden um Unterstützung des Kohle-Kompromisses zu bitten. Derzeit liefen noch insgesamt fünf Kohlekraftwerke in Nordrhein-Westfalen – zwei mit Braunkohle, drei mit Steinkohle. Er appellierte ferner an die Mitglieder der Evangelischen Kirche, die Pläne der Landesregierung mitzutragen, wenn in den einzelnen Regionen wieder Debatten um Windräder und Solarpanel auf landwirtschaftlichen Flächen entstehen. Zur Begründung wies er darauf hin, dass „die größte Herausforderung unserer Generation von Entscheidern […] der Schutz des Klimas“ sei.5 Dabei verwies der Ministerpräsident auf das Jahrhundert-Hochwasser mit 49 Toten im Sommer 2021 allein in Nordrhein-Westfalen als Indikator für den vorherrschenden Klimawandel, der „überhaupt nicht abstrakt“ sei.6
Wir fragen daher die Landesregierung:
- Welche validen Studien oder Untersuchungen liegen dem Ministerpräsidenten vor, welche einen (mono-)kausalen Zusammenhang zwischen einem menschengemachten Klimawandel und der Jahrhundertflut im Sommer 2021 herstellen?
- Nach Ansicht vieler Forscher sei die Hochwasserkatastrophe im Sommer 2021 nicht auf den Klimawandel zurückzuführen. DWD-Diplom-Meteorologe F. führte dazu Folgendes aus: „Ein solches regionales Unwetter ist ein Einzelereignis, das ist Wetter. Die Behauptung, der Klimawandel ist schuld, ist so nicht haltbar.“7
Wie bewertet Ministerpräsident Hendrik Wüst respektive die Landesregierung diese Aussage des Meteorologen F.?
- Die Ahr, der nördlichste Nebenfluss des Rheins im Rheinischen Schiefergebirge, sorgte bereits im 17. Jahrhundert für Überschwemmungen. Am 30. Mai 1601, „wilcher […] ist gewes des Herren Himel Fahrtes Abendt“, zog ein „Ungewitter“ mit Regen und Hagel auf und „stürzten hernieder“. Darüber hinaus wird von 9 Toten alleine in einem Dorf berichtet.8
Am 21. Juli 1804 ereignete sich in Rheinland-Pfalz eine Hochwasserkatastrophe, als die Ahr über die Ufer trat. Zahlreiche Häuser wurden von der Flut mitgerissen sowie schwere Verwüstungen entstanden. Dabei kamen insgesamt 63 Menschen ums Leben.9
Am 13. Juni 1910 trat die Ahr erneut über die Ufer und forderte 52 Tote alleine im Kreis Ahrweiler. Ein Zeitzeuge beschrieb die Katastrophe mit den Worten: „Das Elend übersteigt jeden Begriff.“10
Auf welche Gründe führt Ministerpräsident Hendrik Wüst respektive die Landesregierung diese Hochwasserkatastrophen zurück bzw. sind auch diese Katastrophen durch den menschengemachten Klimawandel zu erklären?
- Welche Kompetenzen befähigen Ministerpräsident Hendrik Wüst dazu, einen kausalen Zusammenhang zwischen der Hochwasserkatastrophe im Sommer 2021 und dem menschengemachten Klimawandel herzustellen?
- Herr Ministerpräsident Wüst appellierte daran, Windräder und Solarpanels auf landwirtschaftliche Flächen zu installieren. Inwiefern hätten nicht etwa Hochwasserschutzmaßnahmen, sondern mehr Windräder die Flut verhindern können?
Markus Wagner
Christian Loose
2 Ebenda.
3 Ebenda.
4 Ebenda.
5 Ebenda.
6 Ebenda.
7 Vgl. https:// exxpress .at/klimaforscher-widersprechen-rekordflut-nicht-mit-klimawandel-erklaerbar/.
8 Vgl. https:// reitschuster .de/post/katastrophale-hochwasser-im-ahrtal-2021-1910-1804-1719-und-1601/.
9 Vgl. https:// relaunch .kreis-ahrweiler.de/kvar/VT/hjb1955/hjb1955.11.htm.
10 Vgl. https:// www .tichyseinblick.de/meinungen/1804-1910-2021-die-drei-jahrhunderthochwasser-an-der-ahr/.
Der Minister für Umwelt, Naturschutz und Verkehr hat die Kleine Anfrage 1529 mit Schreiben vom 20. April 2023 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit der Ministerin für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie beantwortet.
- Welche validen Studien oder Untersuchungen liegen dem Ministerpräsidenten vor, welche einen (mono-)kausalen Zusammenhang zwischen einem menschengemachten Klimawandel und der Jahrhundertflut im Sommer 2021 herstellen?
Es gibt zu der Flutkatastrophe im Sommer 2021, die durch das Tief „Bernd“ und seinen Rekordregenmengen über weite Landesteile ausgelöst wurde, eine ganze Reihe an wissenschaftlichen Studien, die zur Einordnung dienen. Gute Einordnungen über die Flutkatastrophe liefern unter anderem Junghänel et al. (2021); Schäfer et al. (2021); Roggenkamp, T. und Herget, J.: (2022); Mohr et al. (2023), und auch, bereits mit Aussagen zum Klimawandel, Ludwig et al. (2022). Diese Studien beschreiben zusammengenommen sehr gut, welche Witterungsbedingungen herrschten und wie sich durch die Interaktion von Infrastruktur, Talmorphologie, Bodenfeuchte und Exposition eine derartige Hochwasserkatastrophe ereignen konnte.
Aus meteorologischer Sicht ist die Schwere des Niederschlagsereignisses in der gleichen Kategorie zu sehen wie das Jahrhunderthochwasser 2002 in Dresden (Lengfeld et al. 2022; Ludwig et al. 2022), wenn man die Zeitreihe 2001-2020 heranzieht. Als Besonderheit wird bei Tief „Bernd“ die Länge, Schwere und weite Fläche der Niederschläge angesehen (Junghänel et al. 2021, Schäfer et al. 2021; Mohr et al. 2023).
Auch früher gab es ähnlich schwere Niederschlagsereignisse, aber durch die unbestreitbar durch die Menschheit verschuldete, sich beschleunigende Erderwärmung werden solche Ereignisse häufiger und intensiver (IPCC 2021). Müller et al. (2019) zeigen diese Entwicklung bereits für Süddeutschland, auch in NRW lässt sich der Anstieg von Starkniederschlägen bereits über längere Zeiträume nachweisen (https://www.klimaatlas.nrw.de/klima-nrw-monito-ring/klimaentwicklung/niederschlag/niederschlagsextreme).
Über das Tief „Bernd“ existieren sogenannte Attributionsstudien (world weather attribution 2021; Ludwig et al. 2022; Zanger et al. 2023; Tradowsky et al. in review) von einem breiten Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.
Attributionsstudien untersuchen die statistische Wahrscheinlichkeit eines extremen Wetterereignisses in unserem realen, anthropogen stark erwärmten Klima und einem modellierten Klima zum Vergleich, ohne zusätzlichen anthropogenen Treibhausgasausstoß (Philip et al. 2020) beziehungsweise mit anderen Basiskonditionen, die entweder noch kühler oder noch wärmer sein können (Ludwig et al. 2022). In der Studie der world wide attribution Arbeitsgruppe wird dargelegt, dass zwar die Magnitude dieses extremen Ereignisses zumindest an der Ahr 1804 schon vorgekommen ist (siehe auch Schäfer et al. (2021) sowie Roggenkamp, T. und Herget, J. (2022)), aber die Auftretenswahrscheinlichkeit sowie Intensität eines solchen extremen Niederschlagsereignisses haben sich aufgrund der stark angestiegenen Mitteltemperaturen erhöht. Im Vergleich zu einem 1,2 °C kühleren Klima liegt die Intensität der gemessenen Niederschläge durch das Tief Bernd um 3-19 % höher, als sie in einem entsprechend unbeeinflussten Klima möglich wären. Die Wahrscheinlichkeit für solch ein Extremereignis ist gegenüber einer 1,2 °C kühleren Welt heute bereits um den Faktor 1,2 bis 9 höher.
Ludwig et al. (2022) kommen in ihren Modellierungen auf verringerte Niederschlagsintensitäten von – 11 % in einem vorindustriellen, nicht anthropogen beeinflussten Klima gegenüber aktuellen Bedingungen. Unter aktuellen Klimabedingungen kommt ein Niederschlagsereignis der Intensität, wie es im Ahreinzugsgebiet 2021 stattfand, statistisch alle 400 – 500 Jahre vor. Geht man in den Modellierungen von einer „2°C-Welt“ aus, würden die Klimabedingungen zu einer so hohen Niederschlagsintensität führen, wie sie nach aktuellen Bedingungen nur alle 800 Jahre vorkommt.
Man kann also auf validen wissenschaftlichen Studien basierend davon ausgehen, dass die Intensität und Auftretenswahrscheinlichkeit der extremen Starkniederschläge im Juli 2021 durch das Tief „Bernd“ ohne den anthropogenen Klimawandel insgesamt geringer gewesen wären. Es steht fest, dass in einer wärmeren Welt erstens mehr Wasserdampf in der Atmosphäre aufgenommen werden kann (Clausius-Clapeyron-Gleichung) und zweitens Tief- und Hochdrucksysteme langsamer ziehen und dadurch extremer wirken können. Dies hängt mit der Schwächung des jet streams vor allem im Sommer zusammen (IPCC 2021).
- Nach Ansicht vieler Forscher sei die Hochwasserkatastrophe im Sommer 2021 nicht auf den Klimawandel zurückzuführen. DWD-Diplom-Meteorologe F. führte dazu Folgendes aus: „Ein solch regionales Unwetter ist ein Einzelereignis, das ist Wetter. Die Behauptung, der Klimawandel ist schuld, ist so nicht haltbar.“ Wie bewertet Ministerpräsident Hendrik Wüst respektive die Landesregierung diese Aussage des Meteorologen F.?
Frage 2 nimmt Bezug auf einen aus dem Zusammenhang gerissenen Satz des DWD – Pressesprechers Andreas Friedrich in einem Bild-Interview direkt nach der Flutkatastrophe, nachlesbar auf https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/brisante-debatte-um-flut-ursache-liegt-es-am-wetter-oder-klimawandel-77100568.bild.html .
Das Zitat stammt also vom Pressesprecher, der auch Meteorologe ist, und spiegelt nicht die „Ansicht vieler Forscher“ wider. Im Interview selbst steht nichts, was den später gemachten und in Antwort auf die Frage 1 zitierten Studien widerspricht. Meteorologen sprechen zunächst korrekterweise immer von Extremwetterereignissen, die nicht sofort mit dem anthropogenen Klimawandel in Bezug gebracht werden können, weil dafür der Nachweis noch erbracht werden muss. Dieser Nachweis, dass dieses Wetterereignis und die daraus resultierende Flutkatastrophe durch den anthropogenen Klimawandel stärker und wahrscheinlicher geworden ist, wurde, wie in der Antwort zur Frage 1 dargelegt, von zwei Studien (world weather attribution 2021; Ludwig et al. 2022) unabhängig voneinander mit etablierten Methoden nachgewiesen.
- Die Ahr, der nördlichste Nebenfluss des Rheins im Rheinischen Schiefergebirge, sorgte bereits im 17. Jahrhundert für Überschwemmungen. Am 30. Mai 1601, „wilcher […] ist gewes des Herren Himel Fahrtes Abendt“, zog ein „Ungewitter“ mit Regen und Hagel auf und „stürzten hernieder“. Darüber hinaus wird von 9 Toten alleine in einem Dorf berichtet.8
Am 21. Juli 1804 ereignete sich in Rheinland-Pfalz eine Hochwasserkatastrophe, als die Ahr über die Ufer trat. Zahlreiche Häuser wurden von der Flut mitgerissen sowie schwere Verwüstungen entstanden. Dabei kamen insgesamt 63 Menschen ums Leben.9
Am 13. Juni 1910 trat die Ahr erneut über die Ufer und forderte 52 Tote alleine im Kreis Ahrweiler. Ein Zeitzeuge beschrieb die Katastrophe mit den Worten: „Das Elend übersteigt jeden Begriff.“10
Auf welche Gründe führt Ministerpräsident Hendrik Wüst respektive die Landesregierung diese Hochwasserkatastrophen zurück bzw. sind auch diese Katastrophen durch den menschengemachten Klimawandel zu erklären?
Eine Einordnung über die Magnitude und Frequenz der Ahrpegel geben die oben in Antwort 1 erwähnten Studien von Schäfer et al. (2021); Roggenkamp, T. und Herget, J. (2022); Mohr et al. (2023) und Ludwig et al. (2022). Gerade Roggenkamp, T. und Herget, J. (2022) liefern eine umfangreiche Rekonstruktion der Abflussmenge im Juli 2021. Die Abflussmenge lag hier bei 1.000 bis 1.200 m3/s. Diese Menge entspricht der Abflussmenge vom Jahrhunderthochwasser von 1804, welcher ebenfalls bei ungefähr 1.200 m3/s lag. Die Abflussmenge von 1804 konnte mit Hilfe von historischen Daten und geomorphologischen Kartierungen rekonstruiert werden (Roggenkamp und Herget 2014). Die Flutkatastrophe von 1910 dagegen, ebenfalls untersucht, wurde durch eine ungleich geringere Abflussmenge von ca. 500 m3/s ausgelöst (Roggenkamp und Herget 2014). Für die in der Frage 3 erwähnten Flutkatastrophe von 1601 liegen leider keine validen Abflussdaten vor.
Die Flutgeschichte der Ahr zeigt, dass die Hochwasserkatastrophe am 14./15.07.2021 nicht einzigartig war. Aber die in Antwort zu Frage 1 vorgestellten Attributionsstudien zeigen eindeutig, dass der anthropogene Klimawandel einen verstärkenden Einfluss sowohl bei Magni-tude als auch Frequenz auf die ein solches Hochwasser auslösendes Niederschlagsereignis hat. Das Ereignis wäre ohne Klimawandel weniger intensiv und unwahrscheinlicher gewesen.
Im Vergleich zu 1804 waren die Hochwasserstände bei Dernau 2021 ungleich höher, weil die in den 1880’er Jahren gebaute Eisenbahnbrücke den „Flaschenhals“ bei Dernau noch enger machte (Mohr et al. 2023).
- Welche Kompetenzen befähigen Ministerpräsident Hendrik Wüst dazu, einen kausalen Zusammenhang zwischen der Hochwasserkatastrophe im Sommer 2021 und dem menschengemachten Klimawandel herzustellen?
Die Landesregierung kann sich auf die kompetente Expertise der Fachleute aus der Wissenschaft und den nachgeordneten Behörden verlassen.
- Herr Ministerpräsident Wüst appellierte daran, Windräder und Solarpanels auf landwirtschaftliche Flächen zu installieren. Inwiefern hätten nicht etwa Hochwasserschutzmaßnahmen, sondern mehr Windräder die Flut verhindern können?
Es gilt, die anthropogene Erderwärmung so stark es geht einzudämmen. Sie ist die Ursache für noch extremere Wetterereignisse. Bereits heute, bei ca. 1,2 °C globaler Erwärmung gegenüber vorindustrieller Zeit (1850-1900), werden die Auswirkungen auch bei Flutkatastrophen wie 2021 an Ahr und Erft immer sichtbarer. Hochwasserschutzmaßnahmen können nur begrenzt Extrema eindämmen. Jedes zehntel Grad hilft, ansonsten kommen enorme Kosten auf uns zu, wie auch die neueste Studie des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz ganz aktuell zeigt (Flaute et al. 2022).