Kinderschutz stärken – interkollegialen Austausch von Kinderärzten bei Verdacht auf Kindesmisshandlungen ermöglichen – jetzt!

Antrag
vom 19.05.2020

Antragder AfD-Fraktion vom 19.05.2020

 

Kinderschutz stärken – interkollegialen Austausch von Kinderärzten bei Verdacht auf Kindesmisshandlungen ermöglichen – jetzt!

I. Ausgangslage

Artikel 6 der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen normiert in Absatz 1 für jedes Kind das Recht auf Achtung seiner Würde als eigenständiger Persönlichkeit und auf besonderen Schutz durch Staat und Verfassung.

Mit dieser verfassungsrechtlichen Verankerung wird in Nordrhein-Westfalen der Schutz von Kindern und Jugendlichen besonders gewürdigt: Kinderschutz ist ein hohes Gut, zu dessen Verwirklichung der Staat und die Gesellschaft gleichermaßen beizutragen haben. Das gilt ins­besondere dort, wo die zur Sorge Berechtigten und Verpflichteten ihrem Schutzauftrag nicht gerecht werden.

Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf die Entwicklung und Entfaltung ihrer Persönlich­keit, auf gewaltfreie Erziehung und auf den Schutz vor Gewalt, Vernachlässigung und Aus­beutung. Staat und Gesellschaft, so Artikel 6 Abs.2 der Verfassung, schützen sie vor Gefahren für ihr körperliches, geistiges und seelisches Wohl. Sie achten und sichern ihre Rechte.

Die Einführung der Verpflichtung für Kinderärzte, die Teilnehmer an Früherkennungs-untersu-chungen an das Landesinstitut für den Öffentlichen Gesundheitsdienst zu melden, ist nur eine Möglichkeit, Kindesmisshandlungen zu erkennen und zu bekämpfen.

Wenn allerdings Minderjährige bei Kinder- und Jugendärzten, Hausärzten oder in Kranken­häusern zur Behandlung vorgestellt werden und es für den jeweiligen Arzt nicht klar ist, ob tatsächlich die Diagnose einer Kindesmisshandlung (ICD 10 T74. ff) vorliegt, ist es derzeit den betroffenen Ärzten grundsätzlich nicht gestattet, sich ohne Einverständnis der Erziehungsbe­rechtigten (und damit möglicherweise der Täter) über ihre Befunde und Verdachtsdiagnosen im Hinblick auf das Vorliegen einer Kindesmisshandlung interkollegial auszutauschen.

Denn das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient basiert auf der ärztlichen Schwei­gepflicht, sodass nur unter ganz bestimmten, eng gefassten Voraussetzungen Patientendaten offenbart werden dürfen.

Auch der „rechtfertigende Notstand“ gem. § 34 Strafgesetzbuch sieht im Zusammenhang mit der Rechtsgüterabwägung vor, dass im Zusammenhang mit dem Bruch der Schweigepflicht vorher auf die Erziehungsberechtigten eingewirkt werden muss, damit sie die erforderlichen Maßnahmen von sich aus ergreifen. Solange allerdings die Diagnose „Kindesmisshandlung“ nicht bewiesen werden kann, sondern lediglich als Verdacht im Raum steht, ist § 34 Strafge­setzbuch nicht anwendbar.

Da Diagnosen nach ICD 10 nur durch approbierte Ärzte gestellt werden können, ist es wichtig, Ärzten, die Kinder behandeln, hier einen Informationsaustausch zu ermöglichen, wie er bei allen Diagnosen unter Ärzten üblich ist und zur Vermeidung von Kunstfehlern auch gefordert wird.

Ein weiteres Problem im Zusammenhang mit möglichen Kindesmisshandlungen stellen (häu­fige) Arztwechsel dar, die von Erziehungsberechtigten genutzt werden, um kinderschädigende Taten zu vertuschen („doctor-hopping“). Um diese Problematik zu lösen, haben Duisburger Kinderärzte das dateibasiertes Informationssystem „Riskid“ entwickelt, das als Frühwarnsys­tem im Medizinbereich zur Prävention von Kindesmisshandlungen eingesetzt werden kann1. Unter dem Schirm der ärztlichen Schweigepflicht wird es Ärzten ermöglicht, sich gegenseitig über Befunde und Diagnosen zu informieren. Voraussetzung für diesen Informationsaus­tausch ist, dass Ärzte zuvor das Anmeldeverfahren für „Riskid“ durchlaufen haben und zuge­lassen sind. „Riskid“ selbst ist allerdings umstritten, weil die Ärzte bei seiner Nutzung gegen ihre Schweigepflicht verstoßen, wenn sie nicht die schriftliche Einverständniserklärung der El­tern einholen, bevor sie ein Kind namentlich und mit Wohnadresse in der Datenbank auffüh-ren2. Der Arzt muss bei „Riskid“ registriert sein, um auf die Datensätze zugreifen zu können.

Bislang ist die rechtliche Grundlage von „Riskid“ nicht geklärt. Es bleibt den Ärzten auf Grund­lage des Bundes-Kinderschutzgesetzes von 2012 allein die Möglichkeit, die Schweigepflicht zu brechen und Jugendämter zu informieren, wenn sie berechtigte Sorge haben, ein Kind könnte misshandelt worden sein. Allerdings fehlt es an belastbaren Zahlen, inwieweit die Me­diziner von dieser Möglichkeit tatsächlich Gebrauch machen. Es steht zu vermuten, dass eine Dunkelziffer misshandelter Kinder, die nicht erfasst werden können, vorhanden ist.

Demzufolge erscheint es umso wichtiger, dass der „interkollegiale Austausch“ zwischen den Kinderärzten geregelt wird.

Festzuhalten ist, dass ein fast gleichlautender Antrag bereits am 20. März 2013 von der CDU-Fraktion in der 16. Legislaturperiode gestellt worden ist. Im Koalitionsvertrag am 16. Juni 2017 hatten CDU und FDP vereinbart, dieses Vorhaben zu realisieren3.

Dies ist aber bis heute nicht geschehen.

„Riskid“ hat für das Jahr 2018 bundesweit 136 getötete Kinder und 4180 Fälle von körperlicher Misshandlung festgestellt4. Allein in NRW gab es 703 Fälle, in denen Kinder schwer misshan­delt wurden5, und zudem 2803 bekanntgewordene Fälle sexuellen Missbrauchs. Die Zahlen sind im Vergleich zu den Vorjahren deutlich angestiegen. Die Misshandlungsdelikte finden überwiegend, die Missbrauchsdelikte häufig im familiären Bereich statt und treten in den un­terschiedlichsten Formen auf. Zur Kindesmisshandlung im engeren Sinne zählen beispiel-weise Erziehungsgewalt sowohl in physischer (körperliche Misshandlungen) Form als auch in psychischer, wenn den Kindern etwa fortwährend vermittelt wird, sie seien wertlos, ungewollt oder nicht liebenswert6. Es ist davon auszugehen, dass es eine hohe Dunkelziffer gibt.

Im April dieses Jahres starb in Mönchengladbach ein fünfjähriger Junge, der vermutlich von seiner Mutter und deren Lebensgefährten mehrfach schwer misshandelt worden ist. Die Er­mittler sind davon überzeugt, dass die Verletzungen des Kindes in der Kita aufgefallen wären, sodass die aktuelle Schließung der Kitas in diesem Fall noch erschwerend hinzugekommen ist7.

Wie viele Straftaten hätten verhindert werden können, wenn die Landesregierung eine landes-gesetzliche Regelung getroffen hätte, die dazu dient, dass im interkollegialen Austausch zwi­schen Kinderärzten auch das Jugendamt und die Polizei früher von Verdachtsmomenten im Hinblick auf Kindesmissbrauch erfahren könnten? Wieviel Leid wäre den Kindern erspart ge­blieben?

Im Berichtswunsch des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales vom April 2018 für den Ausschuss für Familie, Kinder und Jugend hat die Landesregierung in Aussicht gestellt, sich auf Bundesebene intensiv bei der Weiterentwicklung des Kinder- und Jugendstärkungs-gesetzes einzubringen. Stand der Dinge ist jedoch, dass bisher beim Thema „interkollegialer Austausch“ noch kein Fortschritt in Sicht ist. Auch bei der großen Anhörung des Ausschusses wurde wiederholt von den Experten darauf hingewiesen, wie wichtig das Instrument des inter-kollegialen Austausches zwischen Ärzten ist, um zum einen Rechtssicherheit zu gewährleisten und zum anderen Kinder vor weiteren Misshandlungen zu schützen.

Die regierungstragenden Parteien haben sich zu ihren Oppositionszeiten sehr stark für dieses wichtige Thema ausgesprochen und nicht ohne Grund ihre Vorhaben im Koalitionsvertrag do­kumentiert. Allerdings bleibt das derzeitige Handeln der Landesregierung in dieser Frage hin­ter den Erwartungen zurück.

II. Der Landtag stellt fest,

1. dass die Zahl der Kindesmisshandlungen immer noch zu viel zu hoch ist;

2. dass der interkollegiale Austausch zwischen Ärzten eine Methode zur Identifizierung von körperlicher Gewalt gegen Kinder sein und somit auch als Prävention dienen kann;

3. dass jedes misshandelte Kind eines zuviel ist und dass Kinderschutz und Gewalt­prävention gegenüber Kindern keine Lippenbekenntnisse sein dürfen.

III. Der Landtag fordert die Landesregierung dazu auf,

1. die von Experten gewonnenen Erkenntnisse endlich umzusetzen und pragmati­sche Lösungsansätze zu erarbeiten;

2. konkrete Initiativen in Angriff zu nehmen;

3. landesgesetzlich eine hinreichende Rechtsgrundlage zu schaffen bzw. auf Schaffung einer entsprechenden Regelung hinzuwirken, mit deren Hilfe sich Ärzte bei Verdacht auf Kindesmisshandlung interkollegial zur Absicherung eines möglichen Befunds austauschen können und

4. zu prüfen, unter welchen Bedingungen eine EDV-basierte Datenbanklösung, wie sie in Duisburg und im westlichen Ruhrgebiet zum Einsatz kommt, landesweit implementiert werden kann.

Iris Dworeck-Danielowski
Dr. Martin Vincentz
Markus Wagner
Andreas Keith

und Fraktion

 

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1 https://www.riskid.de/.

2 https://www.waz.de/staedte/muelheim/datenbank-riskid-soll-kindesmisshandlungen-aufdecken-id12192023.html.

3 https://www.cdu-nrw.de/koalitionsvertrag-fuer-nordrhein-westfalen-2017-2022, S.7.

4 https://www.riskid.de/kindesmisshandlung/situation-in-deutschland/.

5 https://www.ruhr24.de/kreis-unna/kindesmissbrauch-zahlen-steigen-doch-statistik-truegt-13149563.html.

6 https://www.kinderschutz-in-nrw.de/fachinformationen/kindeswohl-und-kindeswohlgefaehrdung/er-scheinungsformen-der-kindeswohlgefaehrdung/.

7 https://www1.wdr.de/nachrichten/rheinland/moenchengladbach-fuenfjaehriger-gestorben-100.html.