Kleine Anfrage 2324
der Abgeordneten Enxhi Seli-Zacharias und Dr. Martin Vincentz AfD
„Personen im Kontext von Fluchtmigration“ – Statistik der Bundesagentur für Arbeit liefert dramatische Zahlen für NRW
Die Bundesagentur für Arbeit bietet monatlich die Statistik „Personen im Kontext von Fluchtmigration“ an.1 Darin enthalten ist eine Einzelauswertung für NRW.
Für den Monat Juni 2023 ergibt sich ein Bestand von 124.033 Arbeitsuchenden und 73.289 Arbeitslosen im Kontext von Fluchtmigration (ausgenommen Ukrainer) im Rechtskreis SGB II bzw. SGB III in NRW. Von den 124.033 Arbeitsuchenden stammten 99.529 Personen oder 80 % aus der Asyl-Hauptherkunftsländern Afghanistan, Eritrea, Irak, Iran, Nigeria, Pakistan, Somalia und Syrien. Von den 73.289 Arbeitslosen stammten 58.615 Personen oder ebenfalls 80 % aus diesen Ländern. Die Anzahl der erwerbsfähig Leistungsberechtigten aus diesem Personenkreis betrug 158.5742 Personen.
Betrachtet man die Anzahl der Arbeitslosen aus der genannten Personengruppe in den einzelnen Kreisen bzw. kreisfreien Städten zeigt sich, wir groß bzw. teils unlösbar die gestellte Aufgabe für die Kommunen ist, z. B.: Düsseldorf: 2.123 Personen; Duisburg: 3.180; Essen: 4.424; Wuppertal: 2.523; Köln: 4.239; Gelsenkirchen: 2.223; Recklinghausen: 3.145; Dortmund: 3.843.
Aufschlussreich sind auch die Angaben zum Schulabschluss bzw. zum Anforderungsniveau des Zielberufs der 73.289 Arbeitslosen. So fallen 57.610 dieser Personen oder 79 % in die 3 Kategorien „keine Angabe zum Schulabschluss“, „kein Hauptschulabschluss“ bzw. „Hauptschulabschluss“. 52.890 Personen oder 72 % werden dem Anforderungsniveau „Helfer“ zugeordnet. Demgegenüber sind lediglich 1.537 Personen oder 2 % in der Kategorie „Experte“.
Zugleich meldet die Bundesagentur für Arbeit für den Berichtsmonat Juni 2023 nur 3.136 Abgänge in Erwerbstätigkeit aus dem genannten Personenkreis. Die weit überwiegende Anzahl der Abgänge erfolgt in weitere Bildungsmaßnahmen.
Von den 91.357 Bewerbern auf Ausbildungsstellen entfielen nur 6.745 Personen oder 7,4 % auf den genannten Personenkreis. 2.880 dieser Bewerber blieben unversorgt.
Von 1.102.002 erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in NRW stammen – weit überproportional zum Bevölkerungsanteil – allein 129.623 Personen oder 12 % aus der Kategorie „Personen im Kontext von Fluchtmigration aus den 8 Asyl-Hauptherkunftsländern“, darunter z.B. in Düsseldorf 4.984 Personen, in Duisburg 6.384, in Essen 10.111, in Wuppertal 6.195, in Köln 9.116, in Gelsenkirchen 4.838, in Recklinghausen 8.029, in Bochum 5.057 oder in Herne 2.916 Personen.
Wir fragen daher die Landesregierung:
- Mit welchen weiteren Maßnahmen plant die Landesregierung – abgesehen von Helfertätigkeiten – eine etwaige Fachkräftelücke aus dem Kreis der Personen im Kontext von Fluchtmigration aus den Asyl-Hauptherkunftsländern zu schließen?
- Welche langfristigen, generellen Auswirkungen auf das Sozialsystem befürchtet die Landesregierung im Zusammenhang mit den oben genannten Zahlen?
- Welche langfristigen, generellen Auswirkungen auf die Kranken- und Rentenversicherungen befürchtet die Landesregierung im Zusammenhang mit den oben genannten Zahlen?
- Welche langfristigen, generellen Auswirkungen auf den Wohnungsmarkt befürchtet die Landesregierung im Zusammenhang mit den oben genannten Zahlen?
- Wie begegnet die Landesregierung der mit oben aufgeführten Fakten in Verbindung stehenden Gefahr der konstanten finanziellen Anspannung bzw. Überforderung der kommunalen Haushalte?
Enxhi Seli-Zacharias
Dr. Martin Vincentz
1 Vgl. https:// statistik.arbeitsagentur.de/SiteGlobals/Forms/Suche/Einzelheftsuche_Formular.html?nn=20832&topic_f=fluch tkontext
2 Stand März 2023
Der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales hat die Kleine Anfrage 2324 mit Schreiben vom 27. September 2023 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit der Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration sowie der Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Digitalisierung beantwortet.
- Mit welchen weiteren Maßnahmen plant die Landesregierung – abgesehen von Helfertätigkeiten – eine etwaige Fachkräftelücke aus dem Kreis der Personen im Kontext von Fluchtmigration aus den Asyl-Hauptherkunftsländern zu schließen?
Die Landesregierung ist sich bewusst, dass die Integration von Geflüchteten in den Arbeits-und Ausbildungsmarkt eine große Herausforderung für alle an diesem Prozess beteiligten Akteure darstellt. So liegen bei den Personen im Kontext von Fluchtmigration häufig Umstände vor, die eine unmittelbare Integration zumindest erschweren (gesundheitliche Beeinträchtigungen, auch infolge der Flucht, Traumatisierungen, ggf. bestehende Betreuungsbedarfe, fehlende Sprachkenntnisse, nicht vergleichbare Bildungs- oder Qualifikationsniveaus, fehlende Berufsanerkennung bzw. entsprechende Nachweise usw.).
Die Landesregierung geht aber gleichwohl davon aus, dass im Kontext von Fluchtmigration zugewanderte Personen Potenziale für den Arbeitsmarkt mitbringen und dass diese Zielgruppe mit Blick auf den zunehmenden Fachkräftemangel nicht aus den Augen verloren werden sollte. So bezieht auch die Fachkräfteoffensive der Landesregierung Menschen mit Zuwanderungsgeschichte als Zielgruppe mit ein.
Die Landesregierung unternimmt im Rahmen der Fachkräfteoffensive sowie auch darüber hinaus, gemeinsam mit den weiteren Akteuren am Arbeitsmarkt, der Regionaldirektion Nordrhein-Westfalen der Bundesagentur für Arbeit mit ihren Agenturen für Arbeit, den Arbeitgebern, dem BAMF, den Gewerkschaften und den Kommunen erhebliche Anstrengungen, die Integration des angesprochenen Personenkreises in Arbeit und Ausbildung zu ermöglichen.
Insbesondere über das Landesförderprogramm „Kommunales Integrationsmanagement“ (KIM) findet die Vernetzung verschiedener Ämter und Akteure der Zivilgesellschaft auf kommunaler Ebene statt, um Menschen mit Einwanderungsgeschichte zielgerichtet zu unterstützen und in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Die Förderung zur Implementierung des KIM wurde in § 9 Teilhabe- und Integrationsgesetz NRW (TIntG) gesetzlich verankert und stellt das bundesweit modernste Integrationsrecht dar. KIM fördert innerhalb und außerhalb der Verwaltung die Vernetzung und Zusammenarbeit aller Akteure, die bei der Integration eingewanderter Menschen Dienstleistungen erbringen. Das Landesprogramm ermöglicht den Kommunen effiziente und rechtskreisübergreifende Strukturen und Prozesse im Verwaltungshandeln zwischen Kommunalen Integrationszentren, Ausländer- und Einbürgerungsbehörden, Jugendämtern, Schulämtern, Arbeitsverwaltung, Institutionen der Familienbildung und Familienberatung sowie den Akteurinnen und Akteuren der Zivilgesellschaft und der Freien Wohlfahrtspflege auf- und auszubauen. Auch soll eine gut funktionierende Integrationskette entwickelt werden, bei der die Bedarfe und Potenziale der neuzugewanderten Menschen im Vordergrund stehen. Auf Fallebene übernehmen KIM-Case Managerinnen und Manager die Einzelfallberatung und Begleitung der neuzugewanderten Menschen. Hierbei werden die individuellen Ressourcen der Klientinnen und Klienten in den Vordergrund gestellt, weshalb auch die Arbeitsmarktintegration eine der zentralen Bestandteile der Beratung ist. Über die durch KIM finanzierten zusätzlichen Stellen in den Ausländer- und Einbürgerungsbehörden soll die rechtliche Verstetigung der Integration beschleunigt werden, sodass z. B. ein Zugang zum Arbeitsmarkt durch das Chancenaufenthaltsrecht geschaffen wird.
Des Weiteren unterstützt die Landesregierung die Beratungs- und Integrationstätigkeit in den (kommunalen) Jobcentern vor Ort. Aktuell ist dort die Integrationsquote (Verhältnis der absoluten Zahl an Integrationen zur absoluten Zahl an erwerbsfähigen Leistungsberechtigten) bei den Personen aus den acht wichtigsten Asylherkunftsländern bzw. mit Flucht- / Migrationshin-tergrund bereits höher als bei allen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten.
Die Beschäftigungsquote von Geflüchteten aus den acht wichtigsten Asylherkunftsländern beträgt bundesweit rund 55 Prozent.
Daneben war insbesondere die soeben beendete Landesinitiative „Durchstarten in Arbeit und Ausbildung“ erfolgreich und hat gezeigt, dass die Arbeitsmarktintegration von jungen Geflüchteten, insbesondere Geduldeten und Gestatteten, gelingen kann. Zwar ist diese Landesinitia-tive zum 30. Juni 2023 ausgelaufen. Sie hat aber bemerkenswerte Ergebnisse bei der Integration der Zielgruppe erreicht: Von den rund 23.600 der 18- bis 27- jährigen geduldeten und gestatteten Menschen in Nordrhein-Westfalen konnten mit der Landesinitiative über 10.000 Personen erreicht werden. Als besonderer Erfolg ist vor allem die Aufnahme von Praktika, einer Ausbildung oder einer Beschäftigung von fast 950 Geflüchteten zu bewerten. Hinzu kommen weitere etwa 850 Teilnehmende, die inzwischen die Initiative in Richtung Ausbildung, sozialversicherungspflichtige Arbeit, Studium oder Weiterbildung bzw. in andere Maßnahmen verlassen haben und keine weitere Unterstützung mehr benötigen. Im Förderbaustein 5 „Inno-vationsfonds“ konnten überdurchschnittlich viele Frauen mit Fluchthintergrund an Förderinstrumenten partizipieren, die auf sie zugeschnitten waren. Es sind außerdem vor Ort sehr gute Netzwerkstrukturen entstanden.
Die Landesregierung begleitet die weitere Integration der Durchstarten-Zielgruppe mit einem abgestimmten Übergangsmanagement.
Es ist davon auszugehen, dass die gegenüber dem Start der Landesinitiative deutlich verbesserten Rahmenbedingungen auf der Grundlage von beispielsweise Teilhabeintegrationsge-setz und Chancenaufenthaltsrecht und die damit entstandenen Zugänge in die Regelsysteme des Zweiten bzw. Dritten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II bzw. SGB III) in erheblichem Umfang genutzt werden und perspektivisch zu weiteren Integrationserfolgen führen werden.
Weitere bundesgesetzliche Verbesserungen beim Zugang zum Arbeits- bzw. Ausbildungsmarkt würden zudem den Übergang zusätzlich erleichtern.
- Welche langfristigen, generellen Auswirkungen auf das Sozialsystem befürchtet die Landesregierung im Zusammenhang mit den oben genannten Zahlen?
- Welche langfristigen, generellen Auswirkungen auf die Kranken- und Rentenversicherungen befürchtet die Landesregierung im Zusammenhang mit den oben genannten Zahlen?
Die Fragen 2 und 3 werden aufgrund des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet: Die Landesregierung verfügt hierzu über keine Prognosen.
Sofern es sich bei den hier genannten Personengruppen um Bezieherinnen und Bezieher von Bürgergeld handelt, sind – wie bei allen anderen Antragsberechtigten – die vom Bund gezahlten Beitragspauschalen zur gesetzlichen Krankenversicherung nicht kostendeckend.
Perspektivisch gesehen wird gerade u. a. qualifizierte Zuwanderung jedoch – bei einer zu erwartenden Steigerung der Erwerbsquote – dazu beitragen, dem demographischen Wandel in der gesetzlichen Krankenversicherung sowie der Rentenversicherung entgegenzuwirken und zur Stabilisierung der Systeme beitragen.
- Welche langfristigen, generellen Auswirkungen auf den Wohnungsmarkt befürchtet die Landesregierung im Zusammenhang mit den oben genannten Zahlen?
Das Wohnungsmarktgutachten des Ministeriums für Heimat, Kommunales, Bau und Digitalisierung aus dem Jahr 2020 (Auftragnehmer: GEWOS) hatte für den Zeitraum 2018 bis 2030 einen Neubaubedarf von landesweit 48.000 Wohneinheiten pro Jahr errechnet. Das entspricht in etwa dem tatsächlichen Fertigstellungsniveau der Jahre 2016 bis 2022.
Infolge des Angriffs Russlands auf die Ukraine erreichte die Zuwanderung nach Nordrhein-Westfalen im Jahr 2022 einen neuen Höchststand. Im gesamten Zeitraum 2018 bis 2022 verzeichnete das Land somit einen Wanderungsgewinn von rund +453.000 Personen, der nach der GEWOS-Bedarfsberechnung je nach Szenario erst in den Jahren 2024 bis 2026 erreicht worden wäre. So wurde der errechnete Neubaubedarf der nächsten Jahre quasi „vorgezogen“. Genau lässt sich das nicht beziffern, da einerseits ein unbekannter Anteil der Ukrainerinnen und Ukrainer mittelfristig wieder zurückkehren wird, während sich andere Schutzsuchende meist erst nach einiger Zeit bzw. nach Anerkennung eines Schutzstatus auf dem regulären Wohnungsmarkt versorgen können. Gleichwohl ist klar, dass sich auch der Neubau von Wohnungen in Korrelation zu diesen Zahlen bewegen sollte. Angesichts der schwierigen baukonjunkturellen Rahmenbedingungen ist das kurzfristig allerdings nicht in ausreichendem Umfang zu erwarten.
Daher fokussiert sich die Wohnungspolitik der Landesregierung auf Maßnahmen, die neuen Wohnraum schaffen und die Baukonjunktur stützen. Dazu gehören die Angebote der Initiative Bau.Land.Leben, die Kommunen bei der Baulandmobilisierung unterstützen, und die öffentliche Wohnraumförderung des Landes mit einem Rekordvolumen für die Jahre 2023 bis 2027 in Höhe von insgesamt 9 Mrd. Euro. Haushalte, die Schwierigkeiten haben, ihre Wohnkosten zu tragen, unterstützen Land und Bund seit 1. Januar 2023 mit dem stark erweiterten und dynamisierten Wohngeld.
- Wie begegnet die Landesregierung der mit oben aufgeführten Fakten in Verbindung stehenden Gefahr der konstanten finanziellen Anspannung bzw. Überforderung der kommunalen Haushalte?
Soweit die Auswirkungen von Aufwendungen für Leistungen nach dem SGB II bzw. SGB III für Personen aus bestimmten Herkunftsländern auf kommunale Haushalte in Rede stehen, ist hier allein die Frage nach der SGB-II-Finanzierung einschlägig, da es sich beim SGB III (Arbeitslosengeld) nicht um eine die Kommunen betreffende Finanzierungslast handelt (Bundesfinanzierung).
Die Kosten der Unterkunft und Heizung (KdU) machen die hauptsächlichen Aufwendungen der Kommunen im SGB II aus. Die Trägerschaft der Kommunen bei KdU wie auch die daraus erwachsenden Zahlungsansprüche der Leistungsberechtigten gegenüber den Jobcentern ergeben sich aus bundesrechtlichen Vorgaben (§ 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 22 SGB II) und sind daher nur in sehr begrenztem Umfang auf Landesebene steuerbar.