Verbindungen zwischen den Missbrauchskomplexen „Lügde“ und „Münster“? – Erweiterung des Untersuchungsauftrages des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses IV (Kindesmissbrauch)

Antrag
vom 18.08.2020

Antragder Mitglieder der AfD-Fraktion vom 18.08.2020

 

Verbindungen zwischen den Missbrauchskomplexen „Lügde“ und „Münster“? – Erweiterung des Untersuchungsauftrages des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses IV (Kindesmissbrauch)

I. Der Landtag von Nordrhein-Westfalen stellt fest:

Der nordrhein-westfälische Landtag setzte am 26. Juni 2019 (gemäß Artikel 41 der Landesverfassung Nordrhein-Westfalen) auf Antrag von 65 Abgeordneten der Fraktion der CDU, der Abgeordneten der Fraktion der SPD, von 26 Abgeordneten der Fraktion der FDP und der Abgeordneten der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Drucksache 17/6660) einen Untersuchungsausschuss zum Vorgehen der nordrhein-westfälischen Landesregierung sowie der Ermittlungsbehörden und der Jugendämter im Fall des vielfachen sexualisierten Kindesmissbrauchs auf einem Campingplatz in Lügde ein. Im Rahmen einer Pressekonferenz wurde am 6. Juni 2020 die Aufdeckung eines weiteren großen Falles von sexuellem Kindesmissbrauch in Münster bekannt gegeben.1

Dem 27-jährigen Hauptverdächtigen Adrian V. werden bislang 15 zwischen November 2018 und Mai 2020 in der Gartenlaube seiner Mutter begangene Taten vorgeworfen; die Mutter arbeitet als Erzieherin in einer Münsteraner Kita und soll von den Taten gewusst haben.2 Adrian V. soll darüber hinaus seinen zehnjährigen Ziehsohn Dritten für Missbrauchshandlungen angeboten haben. In der Nacht vom 25. auf den 26. April 2020 sollen vier Männer diesen Jungen und den fünfjährigen Sohn eines weiteren Verdächtigen aus Staufenberg stundenlang vergewaltigt und die Taten gefilmt haben.

Adrian V. war bereits in den Jahren 2016 und 2017 wegen des Besitzes und der Verbreitung von Kinderpornografie verurteilt worden – beide Male auf Bewährung. Nach diesen Verurteilungen hatte das Jugendamt der Stadt Münster Kontakt zu dessen Familie aufgenommen. Der heute 27-Jährige war schon damals der Ziehvater des leiblichen Sohns seiner Lebensgefährtin, der eines der Opfer ist. Das Jugendamt stand bereits in den Jahren 2015 und 2016 in Kontakt zu der Familie, da es Kenntnis über die Ermittlungen gegen Adrian V. wegen des Besitzes und der Verbreitung kinderpornographischer Daten erlangt hatte.3

Die Kindsmutter lehnte allerdings Beratungs- und Hilfsangebote des Jugendamts ab, weil sie nicht mit dem Verdächtigen zusammen leben würde und der Schutz des Kindes gewährleistet sei. Außerdem habe ein forensisches Gutachten aus dem Strafverfahren Adrian V. bescheinigt, dass er seine pädosexuellen Neigungen in der Realität nicht ausleben würde. Im Jahre 2015 sah das zuständige Familiengericht keinen Anlass, das Kind aus der elterlichen Sorge zu nehmen.4

Auch eine weitere Mitteilung über ein Strafverfahren im Zusammenhang mit Kinderpornographie führte in der Fallberatung der Kinderschutzambulanz Münster nicht zur Feststellung einer Gefährdung des Kindes.5 Das Jugendamt kontrollierte lediglich die Wohnsituation. Von einer Stiefelternvollmacht für die Schulen des Kindes, die die Kindsmutter Adrian V. ausgestellt hatte, wusste das Jugendamt nichts.6

Zudem soll der mittlerweile abberufene Chef der Wirtschaftsförderung der Stadt Münster privaten Umgang mit dem Hauptverdächtigen im Missbrauchsfall gepflegt haben. Der Chef der städtischen Wirtschaftsförderung soll dem Hauptverdächtigen im Missbrauchsfall und seiner Mutter mehrmals seine Ferienwohnung in Belgien zur Verfügung gestellt haben. Auch das Opfer, der zehnjährige Stiefsohn des Hauptverdächtigen, soll sich dort aufgehalten haben.

Er kenne die beiden Tatverdächtigen gut, er hätte ihnen die Wohnung kostenlos überlassen, und der Hauptverdächtige habe in der Ferienwohnung die IT-Technik eingerichtet. Kenntnis von den Tatvorwürfen bestreitet er.7

Auf die Spur der Verbrechen kamen Ermittler über kinderpornografische Dateien, die schon 2018 im Internet angeboten wurden. Am 7. Mai 2019 durchsuchten Polizeibeamte die Wohnung des Adrian V. und fanden bereits hier „umfangreiche Mengen an Datenträgern“, die hochprofessionell verschlüsselt gewesen waren. Bei der Tante des Hauptbeschuldigten in Münster fand die Polizei seine sieben Server. Die Ermittler sprechen von „mehreren hundert“ Datensätzen mit einem Speichervolumen von mehr als 500 Terabyte. Am 25. November 2019 wurden mittels Hashwert-Suche Daten gefunden, die den Tatverdacht des Besitzes kinderpornographischer Schriften gegen Adrian V. erhärtet hätten. Diese zeigten allerdings keinen Missbrauch durch Adrian V. an seinem Ziehsohn. Bedingt durch die professionelle Verschlüsselung gelang es der Polizei erst am 13. Mai 2020, einen der sichergestellten Laptops über auf anderen Geräten gefundene Passwörter zu dechiffrieren. Auf diesem Laptop fanden sich Dateien, auf denen der sexuelle Missbrauch des zehnjährigen Ziehsohns durch Adrian V. dargestellt war.

Im Rahmen der Ermittlungen wurden bislang 22 weitere Verdächtige festgestellt, die aus dem ganzen Bundesgebiet und aus dem benachbarten EU-Ausland stammen, wie etwa ein tatverdächtiger Franzose, der am 5. August 2020 festgenommen wurde.

Durch die weite Verzweigung hat mittlerweile die Ermittlungskommission „Berg“ der Kölner Polizei, die den Missbrauchsfall in Bergisch-Gladbach untersucht, ebenfalls Berührungspunkte zu den Ermittlungen, auch wenn Überschneidungen bei den derzeit ausgewerteten Daten noch nicht aufgefallen seien.8 So soll der Hauptverdächtige im Fall Münster, Adrian V., dem Verdächtigen ein Kind zugeführt haben, das dieser im Dezember 2018 in Pulheim bei Köln sexuell missbraucht hat.9

Der Austausch großer Mengen kinderpornographischen Materials zwischen Pädokriminellen auf entsprechenden Plattformen, die große Anzahl an Verdächtigen im Zusammenhang mit einem weiteren Tatkomplex in Bergisch-Gladbach und auch der persönliche Kontakt und das gegenseitige Zuführen von Opfern lassen auf eine intensive Vernetzung und auf einen hohen Organisationsgrad der Täter schließen.

Durch den eingesetzten Untersuchungsausschuss IV ist daher notwendigerweise ebenso aufzuklären, ob auch strafrechtlich relevante Verbindungen zwischen den Missbrauchskomplexen von Lügde und Münster vorhanden sind, ob es – auch unterhalb der strafrechtlich relevanten Schwelle – strukturelle Bezüge der pädokriminellen Szene zwischen den Täterkomplexen und zum Campingplatz in Lügde gab, welche politische Entscheidungen als Antwort auf etwaige neue Strukturerkenntnisse über die pädokriminelle Szene getroffen werden müssen, und schließlich, ob in diesem Zusammenhang mögliche Versäumnisse, Unterlassungen, Fehleinschätzungen und ein Fehlverhalten der Behörden nachweisbar sind.

Es ist vor dem Hintergrund der vorliegenden Informationen und offenen Fragestellungen dringend erforderlich, den Untersuchungsauftrag des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses IV um den vorstehend beschriebenen Themenkomplex zu erweitern.

II. Der Landtag von Nordrhein-Westfalen beschließt:

Der Untersuchungsauftrag des mit Beschluss vom 26. Juni 2019 eingesetzten Parlamentarischen Untersuchungsausschusses IV (Kindesmissbrauch) (vgl. Drucksache 17/6660) wird um einen vierten Themenkomplex

A. „Verbindungen bei den Ermittlungen zwischen den Missbrauchskomplexen ‚Lügde‘ und ‚Münster‘ “

und einen fünften Themenkomplex

B. „Kinderschutz im Zusammenhang mit dem Missbrauchskomplex ‚Münster‘ “

erweitert.

Die Themenkomplexe stehen nach den bisherigen Erkenntnissen möglicherweise in einem sachlichen Zusammenhang mit dem bestehenden Untersuchungsauftrag und sollen bis zum Zeitpunkt des Beschlusses dieser Erweiterung des Untersuchungsauftrags untersucht werden. Die Erweiterung dient der objektiven Wahrheitsfindung und ist für die Vervollständigung der Sachaufklärung unter Berücksichtigung des Untersuchungsziels erforderlich. Auf Grund der strukturellen Ähnlichkeit der Missbrauchskomplexe und insbesondere wegen möglicher Fehler oder struktureller Defizite seitens ermittelnder und betreuender Behörden ist eine Erweiterung des Untersuchungsauftrages nötig, um bestehende Defizite bei den entsprechenden Behörden zu erkennen, abzustellen und zukünftig ähnliche Fälle zu verhindern.

Der Parlamentarische Untersuchungsausschuss IV (Kindesmissbrauch) erhält den Auftrag, jedweden relevanten Zusammenhang zwischen den Missbrauchskomplexen von Lügde und Münster zu ergründen und in diesem Zusammenhang mögliche Versäumnisse, Unterlassungen, Fehleinschätzungen und Fehlverhalten der Behörden aufzuklären. Dazu sind schwerpunktmäßig folgende Fragen zu klären:

A. Themenkomplex „Verbindungen bei den Ermittlungen zwischen den Missbrauchskomplexen ‚Lügde‘ und ‚Münster‘ “

  1. Lassen sich persönliche, berufliche und/oder kriminelle Beziehungen/Verbindungen zwischen den Tatverdächtigen aus dem Missbrauchskomplex in Münster und einem oder mehreren verurteilten Tätern des Missbrauchskomplexes Lügde identifizieren?
  2. War ein Täter beziehungsweise waren mehrere Täter des Missbrauchskomplexes Lügde selbst Teil des Missbrauchsnetzwerks um den Tatverdächtigen aus Münster?
  3. War ein oder waren mehrere Täter des Missbrauchsnetzwerks um den Tatverdächtigen aus Münster selbst als Täter, Mittäter, Gehilfe oder in anderer Form in den Missbrauchskomplex Lügde involviert?
  4. Welche Hinweise auf mögliche Verbindungen zwischen den beiden Missbrauchskomplexen erhielten die Ermittlungsbehörden wann, von wem und auf welchem Weg?
  5. Wie gingen die Ermittlungsbehörden mit diesen unter Ziffer 4. erfragten Hinweisen um?
  6. Lassen sich im Rahmen des behördlichen Umgangs mit möglichen Hinweisen auf Verbindungen zwischen den Missbrauchskomplexen etwaige Versäumnisse, Unterlassungen, Fehleinschätzungen oder ein Fehlverhalten nachweisen?
  7. Welche Auswirkungen hatte die polizeiliche Schwerpunktbildung auf Kindesmissbrauch in den Ermittlungskomplexen Lügde auf die Ermittlungen im Fall Münster?
  8. Wie gestaltet sich die Situation in den mit den Ermittlungen im Fall Münster befassten Behörden bezüglich spezieller Fortbildungen für die Anhörung von kindlichen Opfern sexueller Gewalt, der Auswertung von IT-Asservaten mit kinderpornographischem Inhalt und fachlich ähnlich gelagerten Schulungen?
  9. Wie gestaltet sich die Situation in den mit den Ermittlungen im Fall Münster befassten Behörden bezüglich der psychosozialen Betreuung der ermittelnden Beamten und der Supervision des Ermittlungsvorgangs?
  10. Lassen die Ermittlungen zu den Missbrauchskomplexen Lügde und Münster und ihren möglichen Verbindungen Rückschlüsse auf physische Treffpunkte der pädokriminellen Szene in NRW zu?
  11. Lassen die Ermittlungen zu den Missbrauchskomplexen Lügde und Münster und zu ihren möglichen Verbindungen Rückschlüsse auf bislang unbekannte Strukturmerkmale der pädokriminellen Szene in NRW zu?
  12. Lassen die Antworten auf die unter den Ziffern 7. bis 11. gestellten Fragen spezifische haushalterische, rechts- und polizeipolitische Entscheidungen notwendig werden?

B. Themenkomplex „Kinderschutz im Zusammenhang mit dem Missbrauchskomplex ‚Münster‘ “

  1. Wie gestaltete sich die Personalsituation und -struktur im Jugendamt Münster seit dem Jahre 2015 bis dato?
  2. Gibt es im Jugendamt Münster Beschäftigte mit einer speziellen Fortbildung zur Erkennung und Bearbeitung von sexuellem Missbrauch?
  3. Mit welchen anderen Institutionen, Vereinen oder Behörden bestanden im Zeitraum vom Jahre 2015 bis dato Kooperationsvereinbarungen, und wie gestalteten sich diese?
  4. Inwiefern wurden die vorangegangenen Verurteilungen des Haupttäters Adrian V. wegen Besitzes und Verbreitung von Kinderpornographie bei möglichen Gefährdungseinschätzungen vom beteiligten Jugendamt berücksichtigt?
  5. Welche jugendamtlichen Maßnahmen wurden in der Familie durchgeführt?
  6. Lassen sich im Rahmen des Umgangs des Jugendamts mit Hinweisen auf sexuellen Kindesmissbrauch bzw. auf die pädophile Neigung des Adrian V. etwaige Versäumnisse, Unterlassungen, Fehleinschätzungen oder ein Fehlverhalten nachweisen?
  7. Welche strukturellen Änderungen und Evaluationen bezüglich des Kinderschutzes hat es im Jugendamt Münster in den letzten fünf Jahren gegeben?
  8. Inwiefern wurde die verwandtschaftliche Beziehung zwischen der Kindergärtnerin und ihrem pädophilen Sohn bei den mit dem Kindergarten beschäftigten Behörden gewürdigt?
  9. Lassen sich persönliche, berufliche und/oder kriminelle Beziehungen/Verbindungen zwischen dem Haupttatverdächtigen aus dem Missbrauchskomplex in Münster und einem oder mehreren Beschäftigten der Stadt Münster feststellen?
  10. Lassen die verwandtschaftlichen und persönlichen Beziehungen zwischen dem Haupttäter, dessen Mutter und seiner Lebensgefährtin gesetzgeberische Maßnahmen notwendig erscheinen, die die Handlungsmöglichkeiten von Jugendämtern und von Familiengerichten erweitern?
  11. Lassen die verwandtschaftlichen und persönlichen Beziehungen zwischen dem Haupttäter, dessen Mutter, seiner Lebensgefährtin sowie den involvierten Behörden und den öffentlichen Einrichtungen gesetzgeberische Maßnahmen notwendig erscheinen, die einen vereinfachten und erweiterten, verpflichtenden Informationsaustausch zwischen Behörden und öffentlichen Einrichtungen ermöglichen?

Markus Wagner
Helmut Seifen
Gabriele Walger-Demolsky
Iris Dworeck-Danielowski
Sven Tritschler
Andreas Keith
Herbert Strotebeck
Dr. Martin Vincentz
Christian Loose
Nic Vogel
Roger Beckamp
Dr. Christian Blex
Thomas Röckemann

 

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1 https://www1.wdr.de/nachrichten/westfalen-lippe/kindesmissbrauch-muenster-106.html

2 https://www.nordkurier.de/aus-aller-welt/tatverdaechtige-war-erzieherin-in-einer-kita-0739619706.html

3 https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-06/sexueller-missbrauch-muenster-jugendamt-ermittlung

4 https://www.wn.de/Muenster/4213182-Kindesmissbrauch-wirft-Fragen-auf-Jugendamt-kannte-fruehere-Taten

5 https://www.rnd.de/panorama/missbrauchsfall-munster-jugendamt-schopfte-trotz-fruher-hinweise-keinen-verdacht-6YDIDJ6JSSOSURLAOJLNLRGFPI.html

6 https://www1.wdr.de/nachrichten/westfalen-lippe/missbrauch-muenster-behoerden-100.html

7 https://www1.wdr.de/nachrichten/westfalen-lippe/missbrauchsfall-wirtschaftsfoerderung-freistellung-muenster-100.html

8 https://www.spiegel.de/panorama/justiz/missbrauchsfall-muenster-ermittler-nehmen-62-jaehrigen-franzosen-in-saarbruecken-fest-a-13973288-17ca-4940-b17e-b24a1f4535e2

9 https://www.bild.de/regional/saarland/saarland-news/missbrauchs-skandal-in-muenster-franzose-in-saarbruecken-festgenommen-72251542.bild.html